Ein wirres Durcheinander unterschiedlicher Dinge

Mit dem Hammer philosophiert: Raymond Geuss will das Begriffsidol "Privatheit" zertrümmern und den Liberalismus ins Wanken bringen

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Klarer Fall. "Privat" heißt: Hier nicht rein! Draußen bleiben, Finger weg, nicht einmischen. Oder? Nicht unbedingt müsse das so sein, behauptet der Cambridge-Philosoph Raymond Geuss in seinem nun auch auf Deutsch erschienen Buch Privatheit. Eine Genealogie. Denn es sei ein Fehler, "die Frage 'Warum sollten wir uns darin nicht einmischen?' damit zu beantworten, dass man sagt: 'Weil es privat ist', und dann meint, dies sei ganz offenkundig das Ende der Diskussion".

Der verbreitete Fehler, glaubt Geuss, läge darin, dass es in Wirklichkeit nicht den einen Begriff des Privaten, nicht die eine klare Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen gibt. Deshalb, schreibt er, sei es keineswegs so,

"dass wir entdecken, was der Unterschied zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten ist, und dann als Nächstes festlegen, welche Werthaltungen wir dazu haben sollten. Wir entscheiden vielmehr in Anbetracht unserer Werte und unseres Wissens, welche Dinge wir als regelungsbedürftig oder als förderungswürdig ansehen... "

Dies alles wäre vielleicht nicht weiter der Rede wert, wenn Raymond Geuss nicht versuchen würde, substanzielle politische Konsequenzen aus seiner Analyse der Begriffe "privat" und "öffentlich" zu gewinnen. Er hat sich nicht weniger vorgenommen, als den Einfluss der Unterscheidung öffentlich/privat auf unser Denken zu brechen. Egal, ob man sich den Folgerungen von Geuss anschließen möchte oder nicht: Das Argument verdient es auf jeden Fall, näher betrachtet zu werden.

Dass wir uns in vielfältigen und sehr verschiedenen Zusammenhängen auf den Begriff des Privaten und die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit berufen, kann man sicherlich schwer bestreiten. Raymond Geuss illustriert seine These mit einem ausgedehnten Streifzug durch die Philosophiegeschichte. Das ist unter Philosophen zwar ein beliebtes Vorgehen. Angesichts der Privacy-Debatte jedoch, die ansonsten ja meist im Hinblick auf technologische Trends geführt wird, ist dieser Annäherungsversuch auf anachronistische Weise originell.

Geuss bezeichnet seine Geschichte der Privatheit in nietzeanisch-foucaultscher Manier als "Genealogie"; diese verfolgt eher den Zweck einer Demontage als einer Rekonstruktion der Entstehung von Privatheit. Die Genealogie handelt von der spirituellen Privacy eines Augustinus ebenso wie von Cäsars sprichwörtlich gewordenem Zaudern am Rubikon, von der Abwägung zwischen den Pflichten als Amtsträger und der Rettung von Cäsars eigener Ehre. Den Philosophen Diogenes, als Denker in der Tonne eines der beliebtesten philosophischen Bildmotive, porträtiert Geuss in einer nicht-jugendfreien Version als fröhlichen Onanisten, der mit didaktischem Eifer auf dem Marktplatz masturbiert. Diogenes bringt nicht nur unziemlich viel von Privatem und Secret-Mäßigem in die Öffentlichkeit ein, sondern setzt zugleich ein Exempel radikaler Selbstgenügsamkeit - nicht nur sexuell, sondern ebenso dadurch, dass er sich in den Augen aller anderen unmöglich macht und sich somit von ihrer Anerkennung lossagt. Auch dies ist eine Dimension von "Privacy".

Wo Privacy zuhause ist

Aber wie gelangt man von der bloßen Tatsache, dass wir in sehr verschiedenen Zusammenhängen davon reden, dass etwas "privat" sei, zu der viel weiterreichenden These, dass der Begriff des Privaten so gut wie keinerlei legitimatorisches Potenzial in sich birgt - dass der "Wert" des Privaten sich geradezu auflösen lässt in eine Reihe voneinander unterschiedener Aspekte, wie vor Jahren schon einmal Geuss' Kollegin Judith Jarvis Thomson argumentierte?

Raymond Geuss verzichtet hier ein wenig auf kleinteilige Überzeugungsarbeit und versucht sich in einer sehr viel weiter greifenden Strategie. Er beginnt nämlich, gleich auch an dem nächst größeren Ast zu sägen. Nicht nur das Konzept der Privatsphäre will er demontieren, sondern zugleich jene politische Theorie, in der dieses Konzept beheimatet ist: den Liberalismus.

"Liberalismus" wird bei uns in Deutschland immer leicht mit "FDP" verknüpft, mit den Idealen des Laisser-faire und der Selbstregulierung des Marktes - einem Programm also, welches im angloamerikanischen Raum nicht als "liberal", sondern als "libertär" bezeichnet wird. Inwiefern dieses libertäre Programm Teil einer liberalen Konzeption sein kann oder muss, ist durchaus eine offene Frage. Denn erst einmal haben die beiden Ideale recht wenig miteinander zu tun. Der (philosophische) Liberalismus, auf den Geuss sich bezieht, basiert wesentlich auf nicht mehr als drei Elementen: (1) einer Vorstellung vom Wert eines selbstbestimmten privaten Lebens; (2) dem Versuch, eine Grenzlinie zu ziehen zwischen Handlungen, die nur den jeweiligen Akteur betreffen und solchen, von denen auch andere betroffen sind; und (3) einem Modell für Prozeduren öffentlicher Entscheidungen.

Alle drei Punkte verstehen sich tatsächlich von selbst - mehr oder weniger. Und dennoch: dass die Privatsphäre "zur Quelle besonders lebhafter Freuden und zum Ort der Veranschaulichung besonders tiefer und wichtiger menschlicher Werte" geworden ist, wie Geuss mit verhaltener Ironie schreibt, ist erst eine Errungenschaft der modernen Welt. In der Antike - auch wenn das lange her ist - galt bekanntlich noch das öffentliche Engagement in der Politik als Modell menschlicher Perfektion, während die Sphäre des Hauses als Ort der Unfreiheit, als nur der Notwendigkeit dienlich angesehen wurde.

Hat man aber erst einmal das Privatleben, und damit zugleich das Wohl von Individuen, hoch oben auf die Prioritätenskala gesetzt, ergeben sich die anderen zwei Punkte fast zwangsläufig. Denn damit möglichst Alle die Chance haben, sich privat frei zu entfalten, sollte niemand die Freiheit des anderen einschränken. Der Politik kommt vornehmlich die Aufgabe zu, die privaten Freiräume zu erhalten. Wie das geschieht, darüber soll öffentlich entschieden werden - nicht nach Maßgabe partikularer Interessen. Soweit die Theorie.

Alles andere als evident

Raymond Geuss nimmt nun nicht gerade für sich in Anspruch zu zeigen, dass der Liberalismus falsch ist - aber er arbeitet heftig daran, allen Anschein von Selbstevidenz zu zerstören, der den Fundamenten des Liberalismus aneignet. Der Liberale, das will Geuss zeigen, denkt zirkulär.

Ein verbreiteter Leitsatz liberaler Politik ist etwa die Religionsfreiheit. Diese scheint direkt und logisch aus den liberalen Prinzipien zu folgen. Schließlich steht Selbstbestimmung ganz oben auf der liberalen Agenda, und insbesondere religiöse Selbstbestimmung zählt gewiss zu den Dingen, die Jeder legitimer Weise für sich in Anspruch nehmen darf - weil religiöse Meinungen und Einstellungen nämlich niemand anderem nützen oder schaden als dem Betreffenden selbst. Aber das, insistiert Geuss, ist ein Irrtum. Dies alles hängt davon ab, dass man nicht die Ansicht vertritt, Gott werde Gemeinschaften, die dem Einzelnen gestatten, falschen religiösen Vorstellungen anzuhängen, kollektiv bestrafen. Die Wahrheit oder Falschheit dieser Ansicht folgt aber selbst nicht aus den liberalen Prinzipien. Für Geuss ist dieses Beispiel ein Nachweis dafür, wie schwierig, vielleicht auch wie unmöglich es ist, aufgrund liberaler Prinzipien zu irgendwelchen Entscheidungen zu gelangen, ohne weitere, substanzielle Prämissen mit einzubeziehen.

Von sich aus, das wird hier suggeriert, bedeutet die Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen überhaupt nichts. Deshalb, und auch, weil sie "ein wirres Durcheinander verschiedener Dinge" darstelle, plädiert Geuss dafür, die Unterscheidung zwischen "öffentlich" und "privat" schlicht fallen zu lassen.

Aber warum sollten wir dies tun? Man kann, man muss sicherlich, die begriffliche Unterscheidung, die eine Unterscheidung zwischen "privat" und "öffentlich" fallen lassen. Denn niemand hat je ernsthaft behauptet, dass die argumentative Potenz und auch die Bedeutung dieser Begriffe in allen Kontexten dieselbe sei. Daraus folgt aber nicht, dass nicht doch die eine oder andere Bedeutungsdimension dingfest gemacht werden kann. Schließlich haben doch viele Theoretiker versucht, die Probe aufs Exempel machen und sich bemüht, den Begriff der Privaten enger zu definieren, zu begründen, warum Dimensionen von Privatheit wichtig oder wertvoll sind (Deliberieren hinter geschlossener Tür)?

Geuss behauptet lediglich, dass es unwahrscheinlich sei, "dass man eine interessante, allgemeine, substanzielle Theorie des Öffentlichen und des Privaten entwickeln" könne. Auch wenn er nichts unternimmt, um Unternehmen dieser Art zu diskreditieren, wird dennoch klar, was hier auf dem Spiel steht. Wenn es tatsächlich nicht gelingen könnte, eine kohärente Konzeption des Privaten zu entwickeln und zu verteidigen, dann würde die Begründung "... weil es privat ist" tatsächlich jegliche normative Kraft verlieren.

"Geschichte und Klassenbewusstsein"

Gegen Ende des Traktates gewinnt noch eine andere Frage zunehmend an Gewicht: die Frage, ob die Idee der Privatheit nicht gerade aus der Perspektive eines linken Selbstverständnisses zu kritisieren wäre. Schließlich, das glaubt Geuss, sind Privacy und Privateigentum nicht nur beiläufig miteinander verknüpft. Das stimmt: Insbesondere die amerikanische Debatte um Privacy versuchte von Anfang an, die Angelegenheit als eine Ausdehnung von Eigentumsrechten zu begreifen. Aber dies ist eigentlich nicht mehr als eine historische Koinzidenz. Warum sollte man Privacy nicht auch gerade gegen ein libertäres Politikverständnis stark machen können, das das Eigentum und die Vertragsfreiheit über alles stellt?

Auch ein anderes Element der liberalen Doktrin erweckt Geuss' Argwohn: der "common interest". Denn das so vielfach beschworene "öffentliche Wohl", welches zu fördern sich eine liberale Politik zum Ziel setzt, stellt, wie Geuss meint, nichts anderes als eine bequeme Fiktion dar. Es sei ein Fehler zu glauben, dass es für jede Form von Öffentlichkeit so etwas wie ein "gemeinsames Wohl" gäbe. Denn wie, gibt er zu bedenken, verhält es ich mit drei Schiffbrüchigen, die darum kämpfen, sich auf einer Planke über Wasser zu halten, die nur das Gewicht von einem tragen kann? Und entspricht dieses Bild nicht viel besser unserer tatsächlichen Situation als das Ideal einer Gesellschaft, in der allein dem öffentlichen Wohl verpflichtete Entscheidungsträger darüber streiten, welche mögliche Maßnahme dieses Wohl am meisten steigere?

Mit seiner These, dass die Idee des Gemeinwohls nichts anderes als eine ideologische Täuschung sei, weil es das eine Gemeinwohl nicht gäbe, lehnt sich Raymond Geuss an Georg Lukács "Geschichte und Klassenbewusstsein" an. Auch wenn er beteuert, nicht dem "Klassenkampf" das Wort reden zu wollen, so läuft die Einsicht, die Geuss Lukács abgewinnen will, doch auf darauf hinauf, dass es ein politisches Engagement jenseits des partikularen Interesses schlichtweg nicht gibt, dass selbst das Streben nach Objektivität im Urteil keine Alternative dazu bietet, Partei zu ergreifen.

Mit so viel radikalem Eifer, mit so viel polemischen Witz wird all dies vorgetragen, dass man sich nur ungern in die Rolle des Beschwichtigers drängen lässt, des Schiffbrüchigen-Retters. Denn auch wenn es Konflikte gibt, für die es unter Berufung auf ein "Gemeinwohl" keine Lösung gibt, dann heißt das doch nicht, dass wir gut beraten wären, uns - zumal in politischen Entscheidungen - von der Orientierung daran, was für alle gut ist, einfach zu verabschieden. Vielleicht wären sie gar nicht erst gekentert, die Schiffbrüchigen, wenn sie sich rechtzeitig zusammengerauft hätten.

Aber Geuss ist ein Schlitzohr. Denn ob gemeinsame Entscheidungen möglich sind, ob sie auch nur angestrebt werden können oder nicht, hängt, wie er betont, nicht zuletzt davon ab, ob es klare und tragfähige Prinzipien gibt, auf die sich solche Entscheidungen berufen könnten - Prinzipien beispielsweise einer liberalen Politik. Genau diese jedoch glaubt Raymond Geuss gründlich zerhämmert zu haben.