Eine Art "Angstwahl"
Frankreich, Kommunalwahlen im Zeiten der Corona-Pandemie: Erfolge für Amtsinhaber, Grüne und Rechtsextreme. Unsicherheit über den zweiten Wahlgang
Überraschungen treffen nicht unbedingt dort ein, wo sie erwartet wurden - sonst wären es auch keine Überraschungen mehr. So oder ähnlich lässt sich der erste Durchgang der französischen Kommunalwahlen vom gestrigen Sonntag bilanzieren.
Die politische Stabilität fiel vielerorts stärker als erwartet aus, was damit zu tun hat, dass es sich um eine Art der "Angstwahl" handelte, die den Amtsinhabern zugutekam, jedenfalls überwiegend.
Negativrekord bei der Wahlbeteiligung
Dass die Stimmbeteiligung sinken würde, war allgemein erwartet worden. Um ein Drittel ging sie konkret zurück, von 63,55 % bei der letzten vergleichbaren Wahl (im März 2014) auf nunmehr 44,64 Prozent. Dieser Beteiligungsgrad bildet einen Negativrekord seit der Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958. Verwundern kann er jedoch nicht, waren doch die Wahlteilnehmer zutiefst verunsichert über die wechselnden Ankündigungen der Regierung im Zusammenhang mit dem Coronavirus.
Am Vortag war verkündet worden, dass ab Mitternacht alle Restaurants und Bar schließen müssten und auch das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln eingeschränkt sein würde. Seit dem heutigen Montag sind im Übrigen auch alle Schulen, Kindergärten, Kindertagesstätten und Universitäten bis auf weiteres - wohl mindestens bis zu den Osterferien - geschlossen.
Kein Risiko in den Wahllokalen?
Dass dagegen Wählen risikolos sein sollte, wollte vielen jedoch nicht einleuchten, auch wenn Desinfektionsmittel bereitstanden und die Teilnehmenden dazu aufgefordert wurden, doch bitte ihre eigenen Kugelschreiben mitzubringen.
Dabei dürfte wohl die Faustregel gelten: Je bereitwilliger jemand ist, den Regierungs- oder jedenfalls etablierten Parteien zu glauben und ihren guten Willen abzunehmen, desto eher dürfte er oder sie auch bereit gewesen zu sein, deren Zusicherungen zu akzeptieren. Umgekehrt gilt, dass protestorientierte Wählerinnen und Wähler, die den Etablierten nicht über den Weg trauen, auch hier mutmaßlich stärkere Skepsis an den Tag legten.
Stimmbonus für Amtsinhaber
Entsprechend sind es vielerorts die Amtsinhaber/innen, die von einem "Stimmbonus" profitierten. Dies gilt für die sozialdemokratische Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo in Paris, die mit satten 30 % der Stimmen ein rundes halbes Dutzend Prozentpunkte mehr erntete als erwartet - und gegen eine frühere Ministerin Macrons, Agnès Buzyn, sowie die Konservative Rachida Dati in die Stichwahl einzieht -, aber auch für viele konservative Lokalfürsten und Rathauschefs wie etwa Hubert Falco in Toulon mit über 61 Prozent.
Erfolge für Grüne
Als landesweite politische Kraft hinzulegen konnten unterdessen vor allem die französischen Grünen, die in Städten wie Lyon (28,46 %) oder Strasbourg (27,86 %) als stärkste politische Einzelkraft abschneiden und in der bürgerlich geprägten Stadt Bordeaux (mit stattlichen 34,38 %) nur sehr knapp hinter der Liste des konservativen Amtsinhabers Nicolas Florian mit 34,55 % landen.
Ihr Erfolg hängt vor allem mit der Aktualität und Relevanz des Klimaschutz-Themas zusammen. Wobei es in Bordeaux eine - allerdings in den letzten Wochen vor der Wahl angekündigte - Überraschung zu verzeichnen gibt, mit knapp 12 % der Stimmen für den Antikapitalisten und radikalen Linken Philippe Poutou.
Bürgermeister der Le Pen-Partei legen zu
Auf der neofaschistischen Rechten konnte der Rassemblement national (RN, bis zum 1. Juni 2018 : Front National) dort erheblich punkten, wo er bereits - seit 2014 - in den Rathäusern regierte. Die dortigen Bürgermeister haben es offensichtlich geschafft, einer in ihren Augen "einheimischen" Bevölkerung erfolgreich zu vermitteln, dass diese nicht gemeint sein werden, wenn sie soziale Einschnitte vornehmen - sondern diese für "Ausländer" und Fremdstämmige bestimmt seien.
In Hénin-Beaumont, einer seit über zwanzig Jahren systematisch mit lokaler Kärrnerarbeit zur Hochburg der rechtsextremen Partei ausgebauten früheren Bergarbeiterstadt, holte Amtsinhaber Steeve Briois stattliche 74,21 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Allerdings erhielt die rechtsextreme Partei dort, wo sie nicht bereits regierte - bislang stellte sie zwölf Bürgermeister, zuzüglich drei weiteren für die ebenfalls rechtsextreme Regionalpartei Ligue du Sud - und sich gezielt eine örtliche soziale Basis aufbaute, nicht die erwarteten Zuwächse.
Nirgendwo Hoffnung für die Macron-Partei
Vielmehr profitierten eher die beiden alten Großparteien, Parti Socialiste (PS) und Konservative (früher UMP, jetzt Les Républicains) von der Schwäche der auf nationaler Ebene regierenden Macron-Partei LREM.
Diese hat - als Retortenpartei mit magerem lokalem Aufbau, welcher aufgrund ihrer sozial rückschrittlichen "Reformen" ohnehin der Wind mit schlechten Popularitätswerten ins Gesicht bläst - nirgendwo reale Hoffnung, die Rathäuser irgendwelcher größerer Städte zu erobern.
Soll der zweite Wahlgang abgesagt werden?
Die zentrale Frage lautet nun jedoch, ob die am kommenden Sonntag geplante Stichwahl überhaupt stattfindet. Seit dem gestrigen Sonntag wächst der Druck von mehreren Seiten, diese ausfallen zu lassen. Er kommt unter anderem von prominenten Medizinern, die es bereits für einen Fehler hielten, den ersten Durchgang abzuhalten.
Doch seit Sonntagabend sprechen sich sowohl die Grünen als auch der rechtsextreme RN ebenfalls dafür aus, den zweiten Wahlgang am 22. März abzusagen. Dies würfe jedoch wiederum heikle Fragen auf wie die danach, wie dann mit den Ergebnissen des ersten Durchgangs zu verfahren sei.
Verfassungsjuristen gehen bislang davon aus, dass - weil das Gesetz einen Abstand von einer Woche vorschreibt - diese ungültig würden, mit Ausnahme jener Kommunen, in denen bereits im ersten Durchgang eine absolute Mehrheit für eine Liste erzielt wurde.
Es müsste also vielerorts von vorne los gehen, wenn die Wahl dann neu angesetzt wird. Der RN fordert nun allerdings, durch eine Gesetzesänderung die Resultate der ersten Runde für gültig zu erklären. Auch dabei taucht jedoch ein Problem auf: Nachdem mehrere Coronavirus-Infektionsfälle in der Nationalversammlung auftauchten, tagt das französische Parlament derzeit nicht.