Eine Berichterstattung, die ausblendet und Nebelkerzen wirft

Seite 2: Technik wird wie eine Naturgewalt beschrieben

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Stichwort "blinde Flecken" in der Berichterstattung. In Ihrer Studie heißt es, die Medien erweckten den Eindruck, die Digitalisierung sei ein Prozess, der sozusagen "vom Himmel" gefallen ist und mit dem man sich nun abzufinden habe. Aber diese technische Entwicklung ist kein Naturgesetz, sondern sie wird von Akteuren und Organisationen vorangetrieben, oder?

Hans-Jürgen Arlt: In dieser Hinsicht blendet die Berichterstattung nicht nur aus, sie wirft geradezu Nebelkerzen, weil sie die Technik wie eine Naturgewalt darstellt. Man kann sich die Technik zunutze machen, man kann vor ihr Schutz suchen, man kann sie bejubeln oder beklagen, aber über sie zu entscheiden, sie so, anders oder gar nicht zu konstruieren, das bleibt als öffentliches Thema weitgehend ausgespart. Der einfache Gedanke, dass die Technik selbst das Resultat von Arbeit ist, wird nicht ausgesprochen.

Wie meinen Sie das?

Hans-Jürgen Arlt: In der historischen Rückschau ist der homo sapiens sehr stolz darauf, den Pflug und die Eisenbahn, die Näh-, Kaffee- und Bohrmaschine, das Fließband und den Computer erfunden zu haben. Im Rückblick ist klar, das alles ist Menschenwerk, das haben wir uns erarbeitet. Über die Digitalisierung jedoch wird, wie vorher schon über die Globalisierung, berichtet, als ereigne sie sich hinter dem Rücken aller Beteiligten, als seien alle Getriebene, als sei ein Wettlauf im Gang, dessen Beginn, dessen Verlauf und dessen Ziel niemand kennt, aber alle rennen so schnell sie können und werden in den Medien auch dazu aufgefordert zu rennen.

Gilt das denn nicht auch für andere Themen in den Medien? Was ich meine: Gerade bei den großen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unserer Zeit versäumen Medien es oft, aufzuzeigen, dass hinter diesen Entwicklungen konkret benennbare Akteure und Interessengruppen stehen. Die Berichterstattung vermittelt vielmehr den Eindruck, "die Geschehnisse" seien das Produkt einer Eigendynamik, der sich niemand entgegenstellen kann und mit der man sich zu arrangieren habe. Wie sehen Sie das?

Hans-Jürgen Arlt: In der Tat, es gibt ein Interesse von Entscheidungsträgern, ihre Entscheidungen als Sachzwänge zu maskieren, damit man diesen nicht mehr ansieht, dass sie auch anders hätten getroffen werden können. Gegen die Logik der Sache zu protestieren, ist unvernünftig, Kritik blamiert sich als unsachlich und unrealistisch, wenn es den Entscheidern gelingt, ihren Weg als alternativlos zu präsentieren.

Unternehmensvorstände, aber auch Regierungsverantwortliche sind Profis des vorgeschobenen Sachzwangs. Der Journalismus hat im Tagesgeschäft, das inzwischen ja schon ein Minutengeschäft geworden ist, sehr wenig Reflexionszeit. Er ist schon aus Gründen der Arbeitsökonomie nur zu gerne bereit, die Sachen nicht noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon sind, und Sachzwangargumenten zu folgen.

Mal weiter zu den blinden Flecken. Worüber berichten Medien, wenn es um das Thema Arbeit geht, denn noch nicht?

Hans-Jürgen Arlt: Ich will vorausschicken: Unvollständigkeit ist für sich genommen kein sinnvoller Kritikpunkt. Niemand kann alles beobachten und schon gar nicht alles berichten. Es handelt sich, nicht nur im Journalismus, auch in der Wissenschaft, immer nur um eine Auswahl, um selektive Darstellungen. Umso wichtiger wird deshalb die Frage, wie die Auswahl getroffen wird. Unsere Studie zum Beispiel interessiert sich nicht für die Unterschiede zwischen den einzelnen Medien, sie hat eine gesellschaftspolitische Fragestellung. Wir wollten wissen, welche Hoffnungen und Befürchtungen, welche Versprechungen und Drohungen in der Mediendarstellung mit der Zukunft der Arbeit verbunden werden.

Der blinde Fleck, den ich gesellschaftspolitisch für besonders problematisch halte, ist das journalistische Desinteresse am alternativen Potential der Digitalisierung. Während in den Sozialwissenschaften kaum noch jemand bezweifelt, dass sich hier eine neue Kultur Bahn bricht, und in der digitalen Szene selbst eben nicht nur technische, sondern auch soziale Experimentierfreude herrscht, bleibt der Journalismus weitgehend dem alten industriegesellschaftlichen Denken verhaftet.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Hans-Jürgen Arlt: Debian ist ein freies Betriebssystem, das, wenn ich es recht weiß, etwa 43.000 Pakete vorkompilierter Software zu bieten hat und in über siebzig Sprachen verfügbar ist, in mehr als doppelt so vielen wie das Apple-Betriebssystem. Debian ist ein großes und großartiges Commons-Projekt. Wer kennt es, wer berichtet außerhalb der Fachwelt darüber? Die gesamte Open-Source-Bewegung, die den Nutzwert, den Gebrauchswert ihrer Erzeugnisse in den Mittelpunkt stellt, die Commons, in denen Gleichberechtigte freiwillig zusammenarbeiten, in denen Preissignale nachrangig und Befehlsketten abgeschafft sind, die vielen Versuche der Selbstorganisation - in den klassischen Printmedien werden solche Ansätze als Randphänomene oder gar nicht behandelt.

Selbst die großen alten Fragen, die an die Arbeitsgesellschaft gestellt werden, seit es sie gibt, nämlich die Möglichkeiten der Befreiung in der Arbeit und der Befreiung von der Arbeit, bleiben ausgeblendet oder werden nur negativ thematisiert nach dem Motto "Geht uns die Arbeit aus?" Dass es in einer hochtechnisierten und hochproduktiven Gesellschaft auch außerhalb von bezahlten und unbezahlten Arbeitsleistungen wichtiges Engagement, kreatives Tun und - über die Regeneration für die nächste Arbeitsrunde hinaus - sinnvolles Nichtstun geben könnte, das ist keine Idee, die über Nebensätze im Feuilleton hinauskommt.