Eine Form der milden Funktionärsdiktatur
Seite 2: Das Parlament repräsentiert eine verschwindende Minderheit
- Eine Form der milden Funktionärsdiktatur
- Das Parlament repräsentiert eine verschwindende Minderheit
- Auf einer Seite lesen
Zählt man das zusammen, so ergibt sich: Die Abgeordneten des Bundestags repräsentieren gerade mal etwas über 1,2 Millionen Leute. Bei einer Bevölkerung von über 82 Millionen ist das ein ziemlich mickriges Ergebnis - erst recht wenn man bedenkt, dass längst nicht alle Personen, die formal als Mitglieder geführt werden, auch tatsächlich in ihrer Partei aktiv mitarbeiten. Im Gegenteil: Die überwiegende Mehrzahl ist passiv und nimmt am Parteileben selten, unregelmäßig oder überhaupt nicht teil.
Nach verschiedenen Untersuchungen beteiligen sich rund 40 Prozent aller Parteimitglieder niemals an irgendwelchen Parteiaktivitäten.4 Doch selbst unter den aktiven Mitgliedern wendet etwa die Hälfte weniger als fünf Stunden im Monat für die Parteiarbeit auf. "Die Organisationswirklichkeit der Parteien teilt sich dabei in zwei voneinander klar abgrenzbare Sphären: Eine Gruppe von Mitgliedern beteiligt sich in erster Linie im Rahmen ämterorientierter Aktivität, bringt sich in den Gremien ein und kandidiert für öffentliche Mandate und parteiinterne Ämter. Andere Mitglieder werden hingegen überwiegend durch gesellige Veranstaltungsformen angesprochen und sind nicht bereit, darüber hinaus Verantwortung zu übernehmen."5
Auch die meisten "Aktiven" unter den Parteimitgliedern engagieren sich nicht politisch. Die Partei ist für die meisten eher so eine Art geselliger Verein:
Die Masse der Mitglieder (87 bzw. 77 Prozent) hat in den letzten fünf Jahren Versammlungen bzw. Feste und gesellige Veranstaltungen besucht. Beide Formen sind Ende der 1990er Jahre die wichtigsten Kanäle des Mitgliederengagements.
Auch die zusätzliche Geldspende ist für Mitglieder eine attraktive Beteiligungsform: Zwei Drittel (69 Prozent) haben ihre Partei in diesem Zeitraum über die gezahlten Mitgliedsbeiträge hinaus finanziell unterstützt.
Alle anderen Formen der Mitarbeit folgen mit deutlichem Abstand. Einen mittleren Zuspruch genießen Aktivitäten, bei denen die Mitglieder ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, wie das Kleben von Plakaten und die Verteilung von Flugblättern (56 Prozent) oder aber die Organisation der Parteiarbeit (55 Prozent).
Die Beteiligungsformen mit dem engsten Bezug zu politischen Entscheidungsprozessen schneiden wie in früheren Studien am schlechtesten ab: Für ein Amt in der Partei kandidierten in einem Zeitraum von fünf Jahren lediglich 42 Prozent, und nur noch jedes dritte Parteimitglied (33 Prozent) strebte in dieser Zeit ein öffentliches Amt an.
Heinrich, Roberto/Lübker, Malte/Biehl, Heiko: Parteimitglieder im Vergleich
Ein kleiner Klüngel von Funktionären besetzt alle Ämter
Das Monopol der Parteien bei der Rekrutierung der Politiker wirft Fragen danach auf, wie die Kandidaten parteiintern überhaupt ausgewählt werden. Da die meisten Parteimitglieder inaktiv sind, entscheidet tatsächlich in jeder Partei eine sehr kleine Gruppe von Funktionären und besonders aktiven Mitgliedern über alle Kandidaten.
Die Basis derjenigen, die de facto die Mitglieder des Parlaments bestimmen, ist äußerst klein. Es sind fast ohne Ausnahme Funktionäre, die entweder selbst Mitglied der politischen Kaste sind, danach streben, ihr künftig anzugehören oder aber Leute, die ihre aktive Zeit bereits hinter sich haben.
In ihren Parteien üben die Angehörigen der politischen Kaste starken Einfluss aus. Man kann sagen, dass die quantitativ kleine aber sehr mächtige politische Kaste sich (parteispezifisch differenziert) gewissermaßen selbst reproduziert6, und dass die "Macht der Parteien" im Wesentlichen von einer dünnen Schicht von Funktionären ausgeübt wird.
Eine halbe Million Funktionäre repräsentiert das Volk
Es geschieht den politischen Parteien kein Unrecht, wenn man resümiert, dass sie unter Abzug der Inaktiven und Karteileichen im günstigsten Fall vielleicht 500.000 Mitglieder haben. Diese halbe Million Leute "repräsentiert" das Volk der wahlberechtigten Bürger.
Das läuft auf allerhöchstens ein Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung hinaus. Es sind nur diese wenigen Leute, die Einfluss auf die Nominierung von Kandidaten für politische Wahlämter nehmen können. Und das Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass dies eher eine Negativauslese ist.
Die politischen Parteien haben sich seit den 1950er Jahren grundlegend verändert. Ihre Strukturen haben sich verfestigt. Sie sind nicht mehr geprägt durch die Erfahrungen der Weimarer Republik und des Dritten Reichs und durch eine demokratische Aufbruchsstimmung von Menschen, die nach Freiheit und Recht und Demokratie strebten.
Heute prägen Opportunisten und Karrieristen die Szene in den Parteien. Wer in eine Partei eintritt, überlegt, welchen Nutzen das für ihn hat. Wer beruflich auf der Stelle tritt und durch berufliche Leistung nicht weiterkommt, kann es auch ohne fachliche Leistung mit Hilfe einer Partei noch einigermaßen weit bringen und ein gut bezahltes Amt bekommen. Die Führungskräfte der Parteien sind eine Negativauslese.
Urwahlen als reine Akklamation für die Parteiführung
Alle Versuche, nach Jahrzehnten des nachhaltigen Niedergangs daran noch etwas zu ändern, scheitern kläglich, weil die Bürger inzwischen auch nichts mehr mit den politischen Parteien zu tun haben wollen. So hat die SPD 2011 in Gotha einen Feldversuch mit maximaler Bürgerbeteiligung gestartet. Danach sollen alle Kandidaten für politische Ämter durch Wahlen bestimmt werden, an denen sich auch Nichtmitglieder der Partei beteiligen dürfen.
Bei dem Feldversuch im Landkreis Gotha durften die Menschen vier Monate lang darüber entscheiden, wer für die SPD als "Bürgerkandidat" bei der Landratswahl im Frühjahr 2012 antreten sollte. Das Ergebnis war niederschmetternd: Der "Sieger" bekam 14 von 18 abgegebenen Stimmen der insgesamt 120.000 Wahlberechtigten.
Die Parteien können noch so eindrucksvolle Verrenkungen machen: Die Leute gucken noch nicht mal richtig hin. Die Bevölkerung interessiert sich nicht länger dafür, wie die Kandidatinnen und Kandidaten der politischen Parteien aufgestellt werden. Sie trauen den Parteien sowieso nicht mehr.7
Ähnlich lächerlich sind auch die neuerdings vieldiskutierten Versuche, die Parteimitglieder zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung zu mobilisieren. So hat die baden-württembergische SPD im November 2009 ihren Parteivorsitzenden in einer Urwahl gekürt. Dabei setzte sich Nils Schmid mit 46 Prozent der abgegebenen Stimmen gegen zwei Mitbewerber durch und ließ sich als strahlender Sieger in einer urdemokratischen Veranstaltung feiern, zu der immerhin die 39.275 Mitglieder der SPD in Baden-Württemberg aufgerufen waren. Seine beiden Konkurrenten lagen mit jeweils rund 29 und 23 Prozent weit hinter ihm.
Jedes Parteimitglied durfte mit der Erststimme den Erstwunsch und mit einer Zweitstimme den Zweitwunsch angeben. Da keiner der drei Kandidaten die absolute Mehrheit der Erststimmen erzielen konnte, wurden die Zweitstimmen der Wähler, die mit der Erststimme also den Drittplatzierten auf den Erstplatzierten Schmid und den Zweitplatzierten aufgeteilt. Nach dieser kunstvollen Rechnung kam Schmid auf 56 Prozent der Stimmen. Das klang noch mehr nach Sieg.
Man muss nur richtig rechnen…
Doch tatsächlich nahmen überhaupt nur 48 Prozent aller SPD-Mitglieder (rund 18.700) an der Abstimmung teil, das heißt, die Mehrheit (fast 21.000) nahm nicht teil. Von den teilnehmenden Parteimitgliedern bekam Schmid 46 Prozent, also weniger als die Hälfte. Das waren etwas über 8.000 Stimmen. Von fünf Parteimitgliedern hat also gerade mal ein einziges ihn gewählt. Vier haben das nicht getan. Die überwiegende Mehrheit.
Und weil das nun einmal mit der fabelhaften Rechnerei so hervorragend funktionierte, hat er's 2011 gleich noch mal ausprobiert. Diesmal wurden die Mitglieder der Partei zum Koalitionsvertrag mit den Grünen befragt. Und wieder dasselbe Spiel: Fast 25.000 Mitglieder gaben erst gar nicht ihre Stimme ab, 14.067 taten es und von denen waren 12.795 dafür.
Damit beteiligten sich an der überwiegend per Brief durchgeführten Befragung gerade mal 37 Prozent der SPD-Mitglieder im Land. 63 Prozent beteiligten sich nicht. Und Schmid vermeldete stolz: "Das sind rund 92 Prozent Zustimmung für den Koalitionsvertrag." Erich Honecker hat auch so ähnlich gerechnet. Schmid ist übrigens Wirtschafts- und Finanzminister von Baden-Württemberg, und man mag sich gar nicht vorstellen, was der sonst so zusammenrechnet…
Man erkennt mit einem Schlag: Selbst erz- und urdemokratisch erscheinende Wahlen und Abstimmungen sind nichts weiter als Techniken zur Besetzung von Führungspositionen in den Händen der politischen Machtelite.
Sie haben eine eindeutig akklamatorische Funktion und dienen ausschließlich dazu, längst getroffenen Entscheidungen im Nachhinein auch noch den Segen der Mitglieder zu verleihen und ihnen ein demokratisches Mäntelchen umzuhängen. Aber mit demokratischer Willensbildung haben sie in Wahrheit nicht das Geringste zu tun. In den Händen der innerparteilichen Seilschaften sind selbst demokratische Formen der Willensbildung nichts als Instrumente der Manipulation von Mehrheiten.
Die Parteien haben ein oligarchisches Feudalsystem errichtet
Schon 1983 erkannte der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis: Die politischen Parteien haben sich "von der autonomen Willensbildung des Volkes in einer Weise abgekoppelt, dass ihre demokratische Funktion, wenn nicht gefährdet, so in der verschiedensten Weise problematisiert erscheint."8
Er hat damals nur noch viel zu nebulös ausgedrückt, was längst klar war: Die Parteien haben ein oligarchisches Feudalsystem errichtet. Der Parteienstaat hat die freiheitliche demokratische Grundordnung außer Kraft gesetzt. Er ist in Wahrheit eine Form der milden Funktionärsdiktatur und hat keinerlei Lösungskompetenz für die existenziellen Fragen des Gemeinwohls, weil er Eigensucht, Opportunismus und Korruption zu Prinzipien politischer Herrschaft erhoben hat.
Halten wir also fest: Politiker repräsentieren eine verschwindend kleine Gruppe von parteipolitischen Aktivisten und werden auf eine Weise rekrutiert, in der es auf Fähigkeiten, die sie für ihre spätere Tätigkeit qualifizieren, nicht wirklich ankommt. Das sind keine guten Voraussetzungen für eine Tätigkeit, die ihnen den Respekt der Bevölkerung einbringen sollte.
Durch Ämterhäufung und Bildung von Seilschaften hat ein kleiner Einflusszirkel seine Macht etabliert. "Als neue Obrigkeit wickelt der innere Kreis dieses politischen Hochadels alle Staatsgeschäfte unter seinesgleichen ab. Von den Gefolgschaften wird bedingungslose Treue verlangt, wofür diese dann allerlei Brosamen erhalten."9
Zwischenparteilich entsteht so "eine Gruppe von Eingeweihten, die nur noch Scheingefechte gegeneinander liefern, um das Herz des Wählers zu erfreuen. In Wahrheit sind sie sehr einig, und nur manchmal fechten sie stille, aber erbitterte Kämpfe aus um den Anteil an der großen Futterkrippe, die Macht heißt."10
Für den Parteienforscher Heino Kaack war der Lackmustest der Repräsentativität die Frage, ob die Zusammensetzung des Parlaments ein ausreichendes Maß an personeller Mobilität gewährleistet oder ob sie der "Bildung geschlossener Eliten Vorschub leistet"11. Und darauf gäbe es eine klare Antwort, wenn nicht der Begriff der Elite so sehr in die Irre führen würde. Sie leistet der Bildung eines geschlossenen Zirkels von Ochlokraten Vorschub, die allerdings weit entfernt von allem sind, was die Bezeichnung Elite verdient.
Der Begriff der "Elite" ist ja auch in der Soziologie überaus doppeldeutig: Einmal bezeichnet er relativ wertfrei die in einer Gesellschaft herrschenden oder einflussreichen Kreise (Machtelite) - das können auch ziemlich finstere Gesellen sein; denn sie sind allein dadurch gekennzeichnet, dass sie an den Schalthebeln der Macht sitzen. Auch mafiöse Organisationen haben eine Elite, und das sind die besonders Bösen. Zweitens bezeichnet er die Gruppe der hochqualifizierten Leistungsträger, die allein auf Grund ihrer Leistungen an der Spitze der Gesellschaft stehen (Funktionselite oder Leistungselite). Das sind die Guten. Wenn wir von den Politikern der Gegenwart sprechen, dann sind also lediglich die Machteliten gemeint. Die Leistungseliten gehören ja gerade nicht dazu.
Teil 6: Berufspolitiker: Die Totengräber der Demokratie.
Die meisten heute agierenden Politiker sind Berufspolitiker. Sie gehen aus den politischen Parteien hervor, gelangen von dort in die Parlamente - den Bundestag, die Länderparlamente und das Europaparlament und in die Kreistage, die Stadt- und Gemeinderäte - und wirken von dort aus wiederum in die politischen Parteien hinein. Es ist eine kleine, aber mächtige Gruppe von Leuten, die von der Politik und für die Politik leben.
Politische Beobachter schätzen, dass die "politische Klasse" in Deutschland aus ungefähr 10.000 bis 20.000 Personen besteht. Sie haben den Staat zum Parteienstaat umgebaut. Dieses Machtkartell entscheidet über alles, was im Staat vor sich geht: über die Staatsschulden, das Bildungs- und Gesundheitswesen, über Steuern und Abgaben, Gerichtsstandorte und den Straßenbau. Fast unmerklich hat sich der Parteienstaat zum Machtmonopol entwickelt, das sich dem Volk - immerhin dem Verfassungssouverän - völlig entfremdet hat.