Eine Mehrheit der Europäer glaubt nicht, in einer Demokratie zu leben

Menschen vor dem Rathaus in Krakau, Polen. Bild: Jacek Dylag / Unsplash Licence

Die Ergebnisse einer neuen Studie sind alarmierend. Autoritäre Einstellung haben sich verfestigt. Über demokratisches Misstrauen und undemokratische Politik.

In Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern, wird zurzeit heftig über die wachsende politische Entfremdung großer Teile der Bevölkerung von den etablierten Parteien diskutiert. So hat die AfD in den letzten Umfragen stark an Zustimmung gewonnen, in Brandenburg liegt die Partei mit 32 Prozent sogar an der Spitze des Bundeslandes.

In manchen EU-Staaten haben sich zugleich in den letzten beiden Jahrzehnten mehr oder weniger autoritäre politische Systeme entwickelt, vor allem in Polen und Ungarn. In fast allen Ländern des Kontinents sind rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch. Kritisiert werden die Regierungen und Parlamentarier als korrupt, während sie Interessen und Bedürfnisse der einfachen Menschen nicht im Blick haben.

Eine neue Untersuchung zeigt, wie weit die Kluft mittlerweile gewachsen ist zwischen der politischen Elite und ihrer Demokratie-Rhetorik einerseits und der Einschätzung der Bevölkerungen in den EU-Staaten andererseits.

Das alarmierende Ergebnis: Nur ein Drittel der Europäer glaubt, dass ihr Land demokratisch regiert wird, und nur 20 Prozent sind mit der Funktionsweise des politischen Systems zufrieden. Das deutet auf eine schwere Krise der Repräsentation hin.

Dagegen steht ein anderer Befund. So zeigen die Daten, dass Solidarität langsam an Boden gewinnt, ungeachtet der Versuchungen des individualistischen Rückzugs. Nahezu alle Europäer bejahen das demokratische System, und drei Viertel halten es für wichtig, in einem auf dieser Grundlage organisierten Land zu leben. 57 Prozent wünschen sich ein größeres Mitspracherecht in Bezug auf ihre Bedürfnisse am Arbeitsplatz und in ihrem täglichen Umfeld.

Doch auch dieser positive Befund hat seine Schattenseite. Nur 38 Prozent können als sogenannte "ausschließliche Demokraten" bezeichnet werden, die die Demokratie als gut und alle andere Systeme als schlecht deklarieren. So würden 52 Prozent der Befragten eine Regierung akzeptieren, die aus Experten besteht, die die Entscheidungen treffen (Technokratie), 32 Prozent haben nichts gegen einen autoritären Führer und 14 Prozent würden sogar ein Militärregime unterstützen.

Zudem kann beobachtet werden, dass zwar die zentralen Merkmale der repräsentativen Demokratie (freie Wahlen, Bürgerrechte, Gleichheit von Männern und Frauen) von den meisten als wesentlich angesehen werden. Aber auch andere Ansichten zur Demokratie sind vertreten.

So halten 57 Prozent der Russ:innen und 45 Prozent der Südeuropäer:innen den Gehorsam gegenüber einem Machthaber für ein Merkmal der Demokratie – was in Widerspruch steht zum demokratischen Recht auf Kritik und Protest an den politisch Verantwortlichen.

In den skandinavischen Ländern sowie in West- und Südeuropa gibt es deutlich mehr "exklusive Demokraten" als im Osten Europas. In Russland mag das Ergebnis überraschen: 81 Prozent der Russ:innen halten die Demokratie für ein gutes System und gar 41 Prozent sind "ausschließliche Demokraten".

Der massive Einfluss der Reichen auf die Politik

Das entspricht den Werten von vielen westeuropäischen Ländern wie Frankreich. Demgegenüber würden 32 Prozent einen autoritären Führer und 19 Prozent eine Militärregierung akzeptieren.

Man sieht an den Studienergebnissen, dass die Bindung der Bürger:innen an das demokratische System schwindet, je stärker der Eindruck entsteht, dass Parlamente und Regierungen nicht für die Bevölkerung arbeiten, sondern primär für Lobbys und Eliten mit Machtzugang. Das ist eine Gefahr, insofern es den Wunsch befördert, dass jemand kommen sollte, um das Land autoritär anzuführen, damit es wieder "funktioniert". Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch, siehe Donald Trump, in den USA.

Der Grund für das wachsende Misstrauen gegenüber der real-existierenden Demokratie ist durchaus nachvollziehbar und besitzt eine Basis. So hat der Politikwissenschaftler Martin Gilens mit einem Team von der Princeton University für die Vereinigten Staaten herausgearbeitet, dass die unteren 70 Prozent der Bevölkerung keinerlei Einfluss auf die Politik haben, während der Einfluss zunimmt, je höher man die Einkommensleiter aufsteige. Eine Untersuchung für den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat 2016 ähnliche Ergebnisse für Deutschland ergeben.

Danach hatten die oberen zehn Prozent auf der Einkommensskala massiven Einfluss auf die politischen Entscheidungen im Untersuchungszeitraum 1998 bis 2013, wohingegen das Votum des unteren Zehntels praktisch keine Rolle spielte. Ihr Votum ist sogar, wenn ein Meinungsstreit mit dem obersten Zehntel besteht, negativ mit Gesetzesvorhaben korreliert:

Das für die USA nachgewiesene Muster von systematisch verzerrten Entscheidungen trifft auch auf Deutschland zu.

Die empirischen Ergebnisse der Forscher:innen zeigen, dass die Europäer einen wesentlichen Punkt treffen, wenn sie das Gefühl ausdrücken, nicht in einer Demokratie zu leben. Damit sich die real-existierenden Demokratien wiederbeleben können, muss sich also zuerst einmal die Politik ändern: weg von den Spezialinteressen der oberen Schichten, hin zu den gemeinwohlorientierten Bedürfnissen einer Mehrheit der Bürgerinnen. Das würde Vertrauen schaffen.

Die Alternative wäre eine weitere Erosion nicht nur des Vertrauens ins politische System, sondern auch in die Idee der Demokratie insgesamt. Und wo das enden könnte, dafür gibt es in der Geschichte genügend Anschauungsmaterial.