Eine Million dopt regelmäßig am Arbeitsplatz
Seite 2: Doping für drohende Verlierer statt die Avantgarde
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Damit widersprechen die Zahlen des DAK-Berichts dem gängigen Klischee, vor allem Führungskräfte und Top-Manager würden Gehirndoping betreiben - jedenfalls, sofern es um verschreibungspflichtige Medikamente geht. In der Praxis greifen eher diejenigen, die mit einer unsicheren Beschäftigungssituation und/oder hohen Anforderungen an die Gefühlsregulation und geistige Leistungsfähigkeit zu tun haben, zu den Mitteln. Dieser Effekt scheint mit höherem Alter zuzunehmen. Deshalb ist es schade, dass die DAK keine Erwerbstätigen befragt hat, die älter als 50 Jahre sind.
Vor allem verliert aber mit diesen und ähnlichen Funden aus anderen Studien die unter Ethikern und Wissenschaftlern verbreitete Vorstellung vom Neuroenhancement an Überzeugungskraft. Diese unterstellen häufig, Selbstoptimierung sei ein dem Menschen eigener Trieb, Leistungssteigerung sei an sich gut (Enhancement: Wer will immer mehr leisten?). Es dürfte aber für jeden Menschen einen Punkt geben, an dem lebenslanges Lernen zur Last, an dem Flexibilisierung zum Anpassungszwang wird; vor allem dann, wenn die Betroffenen selbst nicht beim Festlegen der Leistungsziele einbezogen werden.
Außerdem ziehen die Funde, die Neuroenhancement als eine Art Selbstmedikation psychischer Probleme erscheinen lassen, die unter Ethikern beliebte Abgrenzung zur medizinischen Therapie in Zweifel (Kapitalismus und psychische Gesundheit). In der Regel wird von diesen Enhancement als Optimierung Gesunder kategorial von der Behandlung Kranker getrennt. In der Praxis könnte diese Unterscheidung aber nicht nur an den unscharfen Grenzen vieler psychischer Störungen scheitern; manche könnten sich schlicht die psychopharmakologischen Mittel ohne Diagnose besorgen, um Stigmatisierung oder versicherungsrechtliche Nachteile zu vermeiden.
Gesellschaft der Verlierer
Es ist auffällig, wie sehr das Leistungs- und Optimierungsdenken dem von Max Weber schon vor mehr als hundert Jahren beschriebenen Geist des Kapitalismus entspricht: Es ist nie genug. Demgegenüber bedenke man ein berühmtes Zitat Epikurs: "Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug." Tatsächlich vermitteln wir heute schon Schülerinnen, Schülern und Studierenden die Idee, dass "befriedigend" unbefriedigend ist. Die jetzt wirklich befriedigenden Plätze auf dem Siegertreppchen sind aber stark begrenzt. Solches Denken erzeugt vor allem eine Gesellschaft der Verlierer und drohenden Verlierer in einem Wettbewerb mit ungleichen Chancen.
Die Verfasser des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Memorandums Das optimierte Gehirn reagieren auf dieses Gleichheitsproblem in sehr merkwürdiger Weise: Wie schon zuvor das internationale Expertenteam um den Stanford-Professor Henry Greely in seinem Manifest für verantwortungsvolles Neuroenhancement erklären auch Galert und Kollegen die vorherrschenden Zustände schlicht als allgemein akzeptiert:
Im Namen etwa der Freiheit, der Effizienz oder des historischen Gewachsenseins sozialer Strukturen akzeptieren wir nicht nur erhebliche Unterschiede im sozialen Status, im Einkommen und in den damit verbundenen individuellen Zukunftschancen, sondern auch die Weitergabe solcher Startvorteile an die eigenen Nachkommen. … Wenn der ‚Kauf‘ ungleicher Chancen durch eine Ausbildung in Salem [gemeint ist eine exklusive Privatschule, d. A.] oder Harvard die Gerechtigkeit nicht verletzt, warum dann der Kauf analoger Effekte durch Neuroenhancement?
Galert et al.
In Ihrem Buch Seelenriss: Depression und Leistungsdruck reagiert die ehemalige DDR-Athletin und heutige Dopingbekämpferin Ines Geipel darauf wie folgt:
Auf bemerkenswerte Weise ist das Forscher-Team mit dem "Wir" einer Gesellschaft identifiziert, das sich kaum anders als im Optimierungskarussell denken kann. … Dass es den Experten nicht gelingt, sich zu einer anderen Lesart des Jetzt durchzuringen, als seine Verwerfungen im Sinne eines Status quo abzunicken, wird sowohl zum symbolischen als auch ethischen Problem. Denn ein chemisierter Körper ist vor allem eins: ein abhängiger und damit auch kontrollierbarer Körper.
Ines Geipel
Zwang im Namen der Freiheit
Im Namen des politischen Liberalismus setzen sich führende Ethiker, Rechtswissenschaftler und andere Experten auf dem Gebiet des Neuroenhancements weltweit dafür ein, eine zusätzliche Regulierung möglicher Gehirndopingmittel zu verhindern. Was sich auf dem Papier vielleicht gut macht, läuft in der Praxis aber auf die Auslieferung der Menschen an die um sich greifende Ökonomisierung aller Lebensäußerungen hinaus. Nachdem diese erst in Leistungszahlen ausgedrückt werden, setzt das rationalisierende Denken ein und muss die Mehrheit sich an die steigenden Effizienzwünsche einer Minderheit anpassen.
Was das in Zukunft bedeuten könnte, verrät das vom britischen Forschungsministerium finanzierte Foresight-Projekt zur Frage, wie wir im 21. Jahrhundert das meiste aus uns selbst machen können. Dessen Zusammenfassung erschien ebenso wie das genannte Manifest von Greely und Kollegen in Nature.
Die wesentliche Botschaft ist: Im Zeichen des Wohlstands müssten Länder lernen, für ihren Fortbestand die psychischen Fähigkeiten ihrer Bürgerinnen und Bürger zu kapitalisieren. Dafür seien möglichst frühe Interventionen, schon in der Kindheit oder gar vor der Geburt, entscheidend. Durch die Wettbewerbsanforderungen der Globalisierung in einer sich schnell ändernden Welt müssten Menschen das Maximum aus ihren - psychischen wie materiellen - Ressourcen herausholen.