Eine Million dopt regelmäßig am Arbeitsplatz

Seite 3: Psychisches Kapital

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Das psychische Kapital ist dabei ganz analog zum Verständnis des Neuroenhancements durch geistige Leistungsfähigkeit einerseits und das Gefühlsleben andererseits definiert. Der Lebenszyklus des psychischen Kapitals beginnt dabei schon vor der Geburt mit der genetischen Ausstattung und fötaler Programmierung durch die Umwelt im Mutterleib.

Was das psychische Kapital verringert, müsse reduziert werden, darunter schlechte Ernährung, Alkohol-, Tabak- und Drogenkonsum, Jugendschwangerschaften, Stress, Angst, Depression, chronische Erkrankungen, Herausforderungen des Alters. Was es erhöht, das müsse vermehrt werden, etwa gute Erziehungsfähigkeiten, Widerstand gegen jugendlichen Gruppenzwang, soziales Engagement, physische, psychische sowie soziale Aktivität, Medikamente und gesunde Ernährung.

Das Forschungsministerium verteilt dafür Gelder an Wissenschaftler, die im Wettbewerb ums akademische Überleben kämpfen. Freilich haben dieselben Regierungen die Mittelknappheit im akademischen Betrieb erst forciert. Im Gegenzug stimulieren Forscherinnen und Forscher das Volk dazu, mehr aus ihrem psychischen Kapital zu machen, was der Volkswirtschaft nützt. So kommt es zu einer Verschmelzung der politischen und der wissenschaftlichen Agenda. Eine Diskussion der theoretischen Voraussetzungen und Ziele erscheint in diesem Denken als überflüssig, schließlich lasse die Globalisierung uns keine Alternative.

Menschen werden zum Kostenrisiko

Dass der von den Foresight-Experten skizzierte Lebenszyklus wortwörtlich mit der "Verschwendung psychischen Kapitals" endet, liest sich fast wie eine Drohung, im Interesse der Volkswirtschaft nicht sterben zu dürfen, so lange man noch zur Wettbewerbsfähigkeit beitragen kann. Ähnlich drohend liest sich ihre Berechnung der Krankheitskosten etwa allein von Depressionen in England in Höhe von jährlich 77 Milliarden Pfund (ca. 105 Milliarden Euro).

Solche Berechnungen setzen freilich voraus, dass wir alle maximal effizient sein müssen. Daraus folgt, dass Menschen volkswirtschaftliche Kosten verursachen, sobald sie krank werden. Da führende Epidemiologen schätzen, in der Europäischen Union leide jährlich fast die Hälfte der Bevölkerung mindestens einmal an einer psychischen Störung, fallen allein dort rund 250 Millionen Menschen als Kostenfaktor unter diese Kosten-Nutzen-Rechnung (Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört). Mit einem realistischeren Menschenbild, das Krankheit fest einkalkuliert, würde ein Großteil dieser "Kosten" von selbst verschwinden.

Blick aufs Individuum

Der DAK-Bericht zum Doping am Arbeitsplatz hat mit diesen Initiativen eines gemeinsam, nämlich den Blick aufs Individuum. Die Gesellschaft wird - implizit oder explizit - als vorgegeben angenommen, anpassen muss sich das Individuum. So schließt der DAK-Bericht mit einer Reihe von Empfehlungen als Alternativen zum Gehirndoping (PDF), die von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. erarbeitet wurden: ausreichend Schlaf, Yoga oder Meditation zur Entspannung, Gedächtnistraining, gutes Zeitmanagement und so weiter.

Durch diese gut gemeinten Vorschläge werden aber die Erwerbstätigen, die sich bereits an den Grenzen ihrer Belastbarkeit fühlen, nun noch für die Stresskompensation verantwortlich gemacht. Darüber, was den Stress und Leistungsdruck in erster Linie verursacht, findet keine Diskussion statt. Es wäre ein merkwürdiger Arzt, der um die Ursache einer Erkrankung wüsste und seinem Patienten nicht dabei helfen würde, diese Ursache zu entfernen, sondern ihn stattdessen mehr Verantwortung für seine Gesundheit auflädt.

Das strukturelle Problem wird durch die Individualisierung der Intervention, die in naher Zukunft schon vor der Geburt einsetzen soll, freilich nicht gelöst und seine negativen Folgen werden nur aufgeschoben. Diese Lösung erinnert an die Strategie der Externalisierung von Kosten: Gewinne bleiben vor allem in wenigen Händen; der psychische Preis dafür wird Abermillionen von Erwerbstätigen aufgebürdet. Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn im Verliererwettbewerb.