Eine Stadt baut sich nicht mit leichter Hand

Hoyerswerda, Neustadt. Bild: Doris Antony / CC BY-SA 4.0 Deed

Humaner Städtebau: Den Bewohnern ein Gefühl von Freiheit und Würde geben. Nachdenken über Architektur mit Brigitte Reimann.

Von Hanns Adrian, dem ehemaligen Stadtbaurat von Hannover, stammt der schöne Satz: "Öffentliche Plätze sehen oft so aus, wie Heino singt." Doch muss man sich mit Heino nicht unbedingt beschäftigen, falls man einen ungewöhnlichen Zugang zur gebauten Umwelt sucht.

Franziska Linkerhand: Einblick in die sozialistische Architektur der 1960er-Jahre

So ist es mitunter lehrreich, die Belletristik zurate zu ziehen, wenn man Antwort will auf Fragen der Architektur und der Urbanistik. Brigitte Reimanns eindrucksvoller Roman Franziska Linkerhand ist eine solche Quelle. Er erschien im Jahr 1974 (und 1998 als vollständige Ausgabe nach überlieferten Typoskript); zentraler Handlungsort ist die Neustadt im sächsischen Hoyerswerda.

Historisch geht es um die 1960er-Jahre in der DDR. Die junge Architektin Franziska Linkerhand flüchtet vor einer gescheiterten Ehe oder sucht neue Herausforderungen in Neustadt. Eine Stadt, die auf der grünen Wiese neu erfunden wird, so dachte die junge Architektin und träumte von hellen und freundlichen Wohnquartieren.

Idealismus und Realität in der Neugestaltung von Neustadt

Tatsächlich wurden aber graue, triste und uniforme Klötze in den Boden gestampft. Schnell erkannte die von Idealismus getriebene junge Frau, dass auch das Leben in diesen neuen Stadtteilen grau und öde war. Alkoholmissbrauch, Gewalt und Suizid ließen ihre Träume nach und nach zerbröseln.

Diesen Roman kann man als einen Debattenbeitrag lesen, wie man in einer sozialistischen Stadt arbeiten und leben sollte.

Brigitte Reimann (1966). Bild: Klaus Franke / Bundesarchiv, Bild 183-E1209-0026-001 / CC-BY-SA-3.0

Hoyerswerda, die Stadt, in der die Werktätigen des Kombinats Schwarze Pumpe wohnten, wuchs parallel zum Aufbau des Industriegiganten. Die Voraussetzungen schienen günstig: Franziska Linkerhand hat von ihrem Professor ein geradezu erotisches Verhältnis zu ihrem Beruf übernommen:

"Der Bau soll euch mehr sein als eine Geliebte."

Die reale Arbeitswelt als Schock

Sie hat einen hohen gesellschaftlichen Anspruch an ihre Arbeit: Ein Architekt entwirft nicht nur Häuser, "sondern Beziehungen, die Kontakte ihrer Bewohner, eine gesellschaftliche Ordnung". Franziska will Häuser bauen, die "ihren Bewohnern ein Gefühl von Freiheit und Würde geben, die sie zu heiteren und noblen Gedanken bewegen", denn "Architektur trägt im gleichen Maß zur Seelenbildung bei wie Literatur und Malerei, Musik und Philosophie".

Gemessen an diesem Anspruch erlebt Franziska freilich die reale Arbeitswelt als Schock. Die faktischen Möglichkeiten industrialisierten Bauens in Neustadt erlauben nur, möglichst schnell und billig möglichst viele Wohnungen zu bauen.

Franziska fühlt sich mitverantwortlich für die Menschen, für die sie baut; sie will ihnen nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern wirkliche Heimat, ein intaktes Sozialgefüge, Möglichkeiten zu Kontakten, Freizeitaktivitäten und Entspannung schaffen.

Folgen der industriellen Fertigbauweise

Sie macht die Resultate der industriellen Fertigbauweise verantwortlich für die Langeweile und die daraus resultierende Zerstörungswut, für die Gleichgültigkeit der Bewohner, für die hohe Selbstmordrate: "Denn was hier geschah, ging uns an, Planer und Erbauer der Stadt und war unsere Sache: unsere Schuld."

Franziska verliert einige ihrer Illusionen, aber nie ihren Enthusiasmus, ihre Leidenschaft, etwas von ihren Idealvorstellungen von humanem Städtebau in die wirklichen Wohnungen einfließen zu lassen.

Das ungeklärte Verhältnis zwischen dem Notwendigen und dem Schönen, wie es in Brigitte Reimanns Hauptwerk immer wieder aufscheint, gibt die Hintergrundmelodie – gleichsam den basso continuo – ab, wenn man den literarischen Diskursraum verlässt und über Stadt respektive Städtebau nachdenkt.

In ihren Tagebüchern bekennt Brigitte Reimann, wie wichtig ihr die Fragen von Architektur und Städtebau sind. Am 12. November 1963 etwa notiert sie1:

Hamburger, der Chefarchitekt, war bei mir. Er war liebenswürdig, bereit zu erzählen, mir bei meinem Buch zu helfen. H. ist ein müder, alter Mann. Er sagt, er habe sich vorgestellt, er werde eine wunderschöne Stadt bauen und später, wenn er alt ist, zuweilen aus Dresden rüberkommen, die Straßen entlanggehen und in seiner Stadt Kaffee trinken.

Die Mittel für die zentralen Bauten sind rigoros gestrichen worden. Während des Gesprächs mit ihm habe ich mein Buch umprojektiert (und wie oft werde ich das noch tun?): Franziska ist keine "Schlacht unterwegs"-Heldin; sie kommt voll strahlender Pläne in diese Stadt, in der man nichts verlangt als nüchternes Rechnen, schnelles und billiges Bauen.

Kein Platz für persönlichen Ehrgeiz – eine Namenlose in einem Kollektiv, dessen Heldentum darin besteht, daß man nach langem Tüfteln an der Korridorwand drei Zoll einspart. (...)

Wohin sind am Ende die leidenschaftlichen Entwürfe der Jugend? Man hat die Welt nicht aus den Angeln gehoben. Und, schrecklicher Gedanke: Wo ist die flammende Liebe? Erstickt in einer konventionellen ehe, im gemeinsamen Badezimmer, zwischen Wäschewaschen, Fernsehen und dem "was essen wir morgen?"

Brigitte Reimann

Um ihren wichtigsten Roman gleichsam fachlich zu fundieren, suchte Brigitte Reimann einen kompetenten Gesprächspartner. Sie fand ihn in Hermann Henselmann, dem renommiertesten und streitbarsten Architekten der DDR.

Anregende Dispute

Zwischen beiden entwickelte sich rasch eine Freundschaft, die vom Respekt für das Metier des andern und vom Vergnügen an anregenden Disputen getragen war. Im oben genannten Tagebucheintrag klingt das etwa so2:

Berlin, ein Abend bei Henselmann. er hatte seine ganze Arbeitsgruppe eingeladen, begabte junge Leute, die jetzt auf verschiedene Projektierungsbüros verteilt worden sind, wo ihnen die Arbeit keine Befriedigung gibt. H.s Schuld? Er hat ihnen den Traum von der großen Baukunst mitgegeben – und sie zeichnen Türen.

Brigitte Reimann

Elf Monate später schreibt sie:

Vorgestern war Wagner hier, der neue Chefarchitekt der Stadt. Es hat also doch genützt, daß wir Geschrei erhoben haben. Er ist Henselmann-Schüler, hat auch mit ihm am "Haus des Lehrers" gearbeitet, hat aber kritische Distanz zu ihm, nachdem er, wie ich, anfangs heftig für ihn geschwärmt hat. Er will hier so eine Schlägertruppe sammeln, zu der ich auch gehören soll, um durchzusetzen, was bisher nicht möglich war. (...)

Er scheint sehr energisch zu sein, vielleicht mit Hang zur Despotie. Das gefällt mir. (...) Er rennt herum und sucht die Verantwortlichen – vergebens. Ich mußte lachen: genauso erging es mir damals. Aber der setzt sich durch, er hat feste Pläne und breite Schultern und genau die nötige Dosis Arroganz, um mit unserem Dorfbürgermeister und den Funktionären fertig zu werden. (...)

Den Typ brauche ich für mein Buch (...). Er hat mir auch das Bild von H. deutlicher gemach, diese verklemmte Genialität, die maßlose Eitelkeit und Rechthaberei, die ignoriert, daß dieser Typ des Architekten, der Kunst macht ohne Ökonomie und Mathematik, passé ist – auch das ist wichtig für den Reger im Buch.

Brigitte Reimann

Die Korrespondenz mit Hermann Henselmann – die durchaus impulsiv ausfällt – ergänzt Lücken in den Tagebüchern Brigitte Reimanns.

All das ist hilfreich, wenn man die Frage beantworten will: Wie war Brigitte Reimann wirklich? Was waren die treibenden Widersprüche ihres Lebens? Und was hat Literatur mit Architektur zu tun? Man könnte hier vielleicht eine knappe Quintessenz wagen.

Sie adressiert zwei Aspekte, die auf unterschiedlichen Maßstabsebenen angesiedelt sind. Und in beiden Fällen lässt sich eine Brücke zu Brigitte Reimann bzw. ihr alter ego Franziska Linkerhand schlagen.

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