Eine polnische Kulturrevolution
Mit dem Rücktritt des Erzbischofs Wielgus, der als Spitzel der kommunistischen Regierung tätig war, stürzt mit der Kirche auch die streng katholische Gesellschaft Polens in eine Krise
Am vergangenen Sonntag trat der Warschauer Erzbischof Stanislaw Wielgus zurück – nach nur zwei Tagen Amtszeit. Wochenlang bestritt Wielgus, Mitarbeiter der polnischen Stasi gewesen zu sein, bis die Dokumentenlage ihm das Gegenteil bewies. Mit diesem Rücktritt stürzt Wielgus die katholische Kirche Polens, die aufgrund ihrer Geschichte ein nationales Symbol ist, in eine tiefe Krise, denn neue Namen von Geistlichen, die mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben, wurden seit Montag bekannt. Am gestrigen Dienstag wurde publik, dass auch Bischöfe als Spitzel fungierten. Damit steht die Kirche vor einer Zerreißprobe, die für das katholische Polen, wo 95 Prozent der Bevölkerung der Konfession angehöent, zu einer Kulturrevolution entwickeln könnte.
Es war auch ein Akt der Nächstenliebe, als die erste nichtkommunistische Regierung unter Tadeusz Mazowiecki einen "dicken Schlussstrich" unter die jüngste Vergangenheit Polens zog. Gemeinsam mit seinen Mitstreitern wollte der überzeugte Christ Mazowiecki, der bis zum Zerwürfnis mit Lech Walesa einer seiner wichtigsten Berater war und vom Jaruzelski-Regime selber inhaftiert wurde, einen historischen und gesellschaftlichen Neuanfang für das Land östlich der Oder. Während in der Ex-DDR die Gauck-Behörde bzw. die heutige Birthler-Behörde entstand und auch in den meisten anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks eine Aufarbeitung mit den jeweiligen Staatssicherheitsbehörden begann, blieb diese in Polen aus. Man wollte die Gesellschaft nicht entzweien – offene Rechnungen sollten nicht beglichen werden; Familien, Freundschaften und andere über Jahre gewachsene soziale Bindungen wollte man erhalten; vor allem aber sollte das neue demokratische Polen, die III. Republik, eine Heimat für alle Polen werden, in der alle, egal mit welcher Vergangenheit, die gleichen Chancen haben.
Von dieser Entscheidung waren in Polen wie auch im Ausland viele überrascht. Gerade die Polen, die sich immer wieder gegen das kommunistische Joch erhoben und dabei jeden Protest, angefangen 1956 und aufgehört 1981, mit sehr viel Blutzoll bezahlten, richteten nicht über ihre einstigen Unterdrücker. Dies soll aber nicht heißen, dass in Polen versäumt wurde, die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. Historiker befassten sich intensivst unter anderem mit der Vertreibung der Deutschen, mit dem kommunistischen Regime, mit dem Schicksal der Polen während des II. Weltkrieges, vorwiegend mit dem jener, die in die Fänge der stalinistischen Sowjetunion gerieten. Dabei gewannen die Historiker Erkenntnisse, die zum Sturz einiger nationaler Mythen führten, wie zum Beispiel bei der Debatte um Jedwabne, einem kleinen ostpolnischen Dorf, in dem ausgerechnet Polen nach dem Abzug der Sowjets und dem Einmarsch der Deutschen 1941 ihre jüdischen Mitbürger umbrachten. Plötzlich mussten die Polen einsehen, dass sie nicht nur Opfer in den Jahren der Okkupation waren (Schrei nach Liebe).
Die Aufarbeitung mit der Spitzeltätigkeit durch Mitarbeiter der Staatssicherheitsbehörde, kurz SB (Sluzba Bespieczenstwa), blieb jedoch aus den schon erwähnten Gründen aus. Doch der gesellschaftliche Frieden, den sich Mazowiecki erhoffte, blieb aus. Schon früh herrschte Misstrauen innerhalb der polnischen Gesellschaft, die genährt wurde durch in die Welt gesetzte Gerüchte, von denen sich auch manche als wahr erwiesen. So scheiterte der Ex-Premierminister Jozef Oleksy an seiner Verstrickung mit dem sowjetischen Geheimdienst, die er zum Schluss nicht mehr bestreiten konnte. Auch der einstige Arbeiterführer, Friedensnobelpreisträger und erster freigewählter Präsident, Lech Walesa, musste sich gegen Vorwürfe, Spitzel des SB gewesen zu sein, erwehren. Anna Walentynowicz, einst Mitstreiterin Walesas und ebenfalls eine Symbolfigur der Streiktage vom August 1980, behauptet dies hartnäckig seit einigen Jahren.
Diese Stimmung des Misstrauens griff Jaroslaw Kaczynski auf. Seine Forderung nach einer sorgfältigen Überprüfung der SB-Archive um eventuelle SB-Spitzel bekannt zu geben (auf polnisch Lustracja), ist sogar im Parteiprogramm der PiS (Recht und Gerechtigkeit) festgeschrieben und war während des Wahlkampfs 2005 ein wichtiges Thema. Bei der bis heute erhaltenen antikommunistischen Einstellung der Polen stieß er auch bei Gegnern auf Zustimmung, da viele der Meinung sind, die einstigen Kommunisten seien auch die Gewinner der Wende. Einige erfolgreiche Unternehmer und Politiker begannen ihre Laufbahn mit einem Parteibuch der Polnischen Arbeiterpartei in der Brusttasche.
Pünktlich zu den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember wurde auch ein entsprechendes Gesetz vorbereitet. Die Forderung des polnischen Premierministers Jaroslaw Kaczynski, den Generälen von damals, allen voran Wojciech Jaruzelski, die Rente zu kürzen, stieß bei den Polen auf Zustimmung. In Umfragen sprach sich eine große Mehrheit der Bevölkerung dafür aus, was zeigt, dass die alten Feindbilder bis heute Emotionen wecken, obwohl Jaruzelski schon immer behauptete, Polen mit dem Kriegsrecht gerettet zu haben, denn sonst wäre ein Einmarsch der Sowjets unvermeidbar gewesen. Eine Einschätzung, die ihm auch einstige Oppositionelle abnahmen und das Kriegsrecht als das „kleinere Übel“ bezeichneten.
Die einzige Institution, die seit der Wende von solchen Vorwürfen verschont wurde, war die katholische Kirche Polens
Die Kirche profitierte davon, dass sie über Jahrzehnte hinweg das einzige Gegengewicht zu der kommunistischen Partei war, die den Oppositionellen auch dann eine Heimat bot, wenn sie verfolgt wurden. Zudem hatte die Kirche auch genügend mutige Menschen in den eigenen Reihen, die den kommunistischen Machthabern Paroli boten und dadurch zu leiden hatten.
Der 1978 verstorbene Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszinski, war während des Stalinismus lange Jahre inhaftiert und wurde erst 1956 freigelassen. Erinnert sei auch an den Priester Jerzy Popieluszko, der 1984 von Geheimdienstleuten verschleppt und umgebracht wurde. Doch die bekannteste Galionsfigur der polnischen Kirche ist natürlich Karol Wojtyla, der 2005 verstorbene Papst Johannes Paul II. Dieser machte nie einen Hehl aus seinem Antikommunismus. Als er noch Erzbischof von Krakau war, setzte er durch, dass in Nowa Huta, einer Musterstadt der polnischen Kommunisten unweit der ehemaligen königlichen Hauptstadt, in der ursprünglich keine einzige Kirche stehen sollte, doch ein Gotteshaus errichtet wurde. Und während seines Pontifikats war die Bekämpfung des Kommunismus eines seiner wichtigsten politischen Ziele.
Dieser Karol Wojtyla diente der Kirche aber auch als Schutzschild und Legitimation, um sich nicht mit der eigenen Vergangenheit und der Durchsetzung des Klerus durch Stasispitzel befassen zu müssen. An der Katholischen Universität in Lublin wurde vor zwei Jahren zwar eine historische Kommission gegründet, die sich mit den Verbindungen zwischen dem Klerus und der Staatssicherheit befasst, doch besonders effektiv waren die Kirchenhistoriker bisher nicht. Das polnische Episkopat hatte einfach Angst vor einer lückenlosen Aufklärung, um in der Gesellschaft nicht an Ansehen zu verlieren.
Ein Mangel, der innerhalb des Klerus heftig kritisiert wurde. Deshalb waren es auch nur einzelne Priester, die sich des Themas annahmen. So veröffentlichte vor kurzem der Danziger Solidarnosc-Pfarrer Henryk Jankowski eine Liste mit zwanzig Namen seiner Spitzel, darunter sechs Priester und ein Bischof. Doch der momentan bekannteste von diesen Geistlichen ist der Krakauer Priester Tadeusz Isakowicz-Zalewski. Während des Kommunismus hatte er selber unter den Organen der Staatssicherheit zu leiden, wurde Opfer körperlicher Gewalt und ein Forschungsaufenthalt im Westen wurde ihm vom Regime verweigert, weshalb er auch seinen Wunsch nach einer wissenschaftlichen Karriere aufgeben musste.
Im letzten Jahr wollte Tadeusz Isakowicz-Zalewski nun ein Buch veröffentlichen, in dem er sich mit den Stasikontakten der Geistlichen befasst. Ein Vorhaben, das von den polnischen Bischöfen mit sehr viel Missmut aufgenommen wurde. Isakowicz-Zalewski drohte eine Kirchenzensur und Kardinal Jozef Glemp, als Primas der wichtigste Geistliche Polens, beschimpfte den Krakauer Priester sogar als einen „Stasimann der schlimmsten Sorte.“ Doch nach den Ereignissen der letzten Wochen und Tage, wird auch Glemp nichts anderes übrig bleiben, als eine Aufklärung und Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit innerhalb der Kirche zu forcieren.
Wielgus sollte polnische Oppositionelle in Deutschland bespitzeln
Angefangen hat alles mit den Vorwürfen gegen den Bischof von Plock, Stanislaw Wielgus, der Nachfolger Glemps als Erzbischof von Warschau und Gnesen werden sollte. Kurz vor Weihnachten schrieb die Gazeta Wyborcza, Stanislaw Wielgus sei seit 1978 informeller Mitarbeiter des SB gewesen. Seine Aufgabe war es, polnische Oppositionelle, die in Deutschland lebten, während seines Forschungsaufenthalts auszuspionieren, ebenso wie den damals in München ansässigen Sender Radio Free Europe.
Wielgus bestritt wochenlang diese Vorwürfe. Doch nachdem eine Historikerkommission die Dokumente, die auch im Internet einzusehen sind, durchsah und als echt befand, blieb Stanislaw Wielgus nichts anderes übrig, als am vergangenen Freitag, dem Tag seines Amtsantrittes, seine Zusammenarbeit mit dem SB zuzugeben. Wielgus betonte aber, während seiner Tätigkeit als Spitzel nie jemanden verraten oder gar geschadet zu haben. Der gesellschaftliche Druck blieb jedoch. Laut einer von der Tageszeitung Dziennik in Auftrag gegebenen Umfrage sprachen sich 67 Prozent der befragten Polen gegen einen Warschauer Erzbischof Stanislaw Wielgus aus.
Am Sonntag sollte Wielgus nun auch sein erstes Hochamt als Warschauer Kardinal feiern. Doch daraus wurde nichts. Kurz vor dem Beginn des Gottesdienstes verlas er eine Erklärung, in der er nach nur zwei Tagen von seinem Amt zurücktrat. Unter den Gläubigen, die sich sowohl in als auch vor der Kathedrale zahlreich versammelt haben, brachen Tumulte aus. „Bleib bei uns“, riefen einige schockiert, während andere die Entscheidung begrüßten.
So unterschiedlich, wie die Reaktion der vor der Kathedrale versammelten Gläubigen, war auch die der übrigen Bevölkerung. Viele, vorwiegend ältere und weniger gebildete Menschen, kritisieren diese Entscheidung und bezeichnen dies als einen späten Sieg der Kommunisten und des SB. Zudem ist Wielgus für sie kein Täter, sondern ein Opfer – ein Opfer der Kommunisten und der heutigen polnischen Medien, die eine Kampagne gegen ihn gestartet haben.
Unterstützt und mit Argumenten gefüttert, werden sie von den Medien des Medienimperiums um Radio Maryja. So beschuldigte Wojciech Wybranowski die polnische Presse, in der Dienstagausgabe der zu Radio Maryja gehörenden Tageszeitung Nasz Dziennik, eine Kampagne gestartet zu haben, um dem Ansehen der Kirche zu schaden. Eine Argumentation, die gerade aus der Feder von Nasz Dziennik sehr skurril klingt, da Radio Maryja sich den Kampf gegen ehemalige Kommunisten und Spitzel auf die Fahnen geschrieben hat. Hinter diesen Vorwürfen steckt aber Hilflosigkeit, da innerhalb der Kirche natürlich Angst um ihr Ansehen und bei vielen Gläubigen, vor allem bei jenen, die in den letzten 17 Jahren mit dem Wandel in Polen nicht mehr zurechtkamen, um den Verlust einer letzten moralischen Instanz und einem Halt in ihrem Leben.
Die moraalische Glaubwürdigkeit der Kirche ist beschädigt
Diese Angst und Hilflosigkeit konnte man auch in der Predigt von Kardinal Glemp, der nun weiterhin in seinem Amt als Warschauer Erzbischof fungieren muss, heraushören. „Auch der Apostel Petrus machte Fehler. Er verleugnete Jesus und trotzdem führte er als erster das Christentum an“, sagte Glemp. Aus diesen Worten kann man nicht den Willen entdecken, sich auch in Zukunft kritisch mit den Verbindungen zwischen Kirche und kommunistischen Regime zu befassen.
Der katholischen Kirche Polens wird aber nichts anderes übrig bleiben, wenn sie auch noch zukünftig glaubwürdig bleiben möchte. Denn der Fall Wielgus hat einen Stein ins Rollen gebracht, der sich immer mehr zu einer Lawine entwickelt. Gleich am Montag sagte der Lubliner Erzbischof Jozef Zycinski der polnischen Presse, die Geschehnisse der letzten Tage haben die innerkirchliche Aufarbeitung „dynamisiert“. Doch gleichzeitig warnte Zycinski die Öffentlichkeit: „Aufklärung ja, aber keine Kulturrevolution wie in China.“
Eine kleine Kulturrevolution für die polnische Kirche, die sich in der schwersten Krise seit Jahrzehnten befindet, ist aber unvermeidlich, ebenso wie für die polnische Gesellschaft. Seit Sonntag werden immer weitere Verwicklungen zwischen dem Klerus und dem SB bekannt. Ein großer Schock für die Polen aber ist, dass unter den neu genannten Beschuldigten auch Personen gehören, die zum engeren Kreis von Johannes Paul II. gehörten.
So trat am Montag Janusz Bielanski, bisher Pfarrer auf der Wawel-Kathedrale, dem polnischen Nationalheiligtum, zurück. Bielanski ist ein enger Freund des Krakauer Kardinals Dziwisz, der ein Vertrauter und Berater des verstorbenen Papstes im Vatikan war. Noch ein größerer Schock aber war die Nachricht vom gestrigen Dienstag. Wie bekannt wurde, versuchte der SB 1978 Einfluss zu nehmen auf die Wahl des polnischen Primas. Mehrere Bischöfe sollen dabei als Spitzel fungiert haben.
Und wenn dies stimmt, dann steht Polen wirklich eine gesellschaftliche Revolution bevor, welche die Gesellschaft nachhaltig verändern könnte, da die moralische Glaubwürdigkeit der Kirche extrem beschädigt ist. Wie unbeschadet die Kirche aus den nächsten Wochen herauskommt, hängt nun allein vom Handeln der Bischöfe ab und von ihrem Willen nach Aufklärung. Primas Glemp, der 1978 zum Nachfolger des in Polen bis heute verehrten Stefan Wyszinski gewählt wurde, ist als Oberhaupt und Hirte so gefordert, wie zuletzt vielleicht in den Jahren des Kommunismus. Aber eins steht fest – 17 Jahre nach der Wende hat nun auch der letzte nationale Mythos starke Kratzer abbekommen.