Eingeschränktes Parallelpetitionsrecht statt Volksbegehren
Die als Element direkter Demokratie verkaufte Europäische Bürgerinitiative passt eher in ein Feudalsystem
Eines der Rechte, das auch absolutistische Herrscher häufig gewährten, war das Petitionsrecht. Allerdings war dies häufig so unverbindlich ausgestaltet, dass man kaum von einem echten, sondern eher von einem Scheinrecht sprechen sollte: So konnten Bittschriften zwar eingereicht werden - aber es stand ganz im Willen des Herrschers und seines bürokratischen Apparates, auf welche von ihnen er eingehen und welche er abschlägig bescheiden wollte. Diese weitgehende Willkür ermöglichte es, Privilegien für Günstlinge nicht als solche erscheinen zu lassen, sondern als Wohltaten, die Wünschen aus der Bevölkerung entsprangen. Und weil der Herrscher in seiner Reaktion auf Petitionen so frei war, konnten sich diese auch zu Boomerangs entwickeln, die von den Petenten gänzlich unerwünschte Ergebnisse hervorbrachten.
All das trifft auch auf die als direktdemokratisches Element angepriesene Europäische Bürgerinitiative, die "EBI" zu. Die Einführung der EBI ist ein Ergebnis des Vertrages von Lissabon, dessen Befürworter fleißig mit dem angeblichen "Instrument der direkten Demokratie" warben. Die rechtlichen Grundlagen finden sich in Artikel 11 Abs. 4 des geänderten EU-Vertrags. Dort ist geregelt, dass "Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss" die Europäische Kommission auffordern können, "im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen."
Details zur EBI müssen nach Art. 24 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in einer Verordnung konkretisiert werden. Letzte Woche stellte die Europäische Kommission ihren Verordnungsentwurf zur Europäischen Bürgerinitiative (EBI) vor. Den unbestimmten Rechtsbegriff "erheblich" konkretisiert dieser Entwurf auf 1/3 der Mitgliedsstaaten, also derzeit 9. Dem Papier zufolge reicht es aber nicht, dass überhaupt Unterschriften aus 9 Ländern kommen - stattdessen sieht nämlich es zusätzliche Unterschriftenhürden für jedes einzelne beteiligte Land vor, die nach dessen Bevölkerungszahl gestaffelt sind. Diese Regelung sorgt indirekt dafür, dass gesammelte Stimmen praktisch wertlos werden, wenn sie über die Quote eines Landes hinausgehen.
Erst wenn mehr als 300.000 Unterschriften gesammelt sind, soll die EU-Kommission eine Zulässigkeitsprüfung durchführen und entscheiden, ob die Initiative überhaupt zulässig ist, oder ob sie ihrer Ansicht nach gegen EU-Verträge verstößt. So kann es sein, dass Initiatoren erhebliche Mittel für eine EBI verpulvern, die nicht einmal angenommen wird. Eine Kostenerstattung ist nämlich nicht vorgesehen.
Die Möglichkeit der Online-Unterzeichnung mittels Eingabe einer Personalausweis- oder Sozialversicherungsnummer klingt zwar bürgerfreundlich, könnte aber durch den Zwang zur Eingabe in Verbindung mit der zentral geregelten aber auf nationaler Ebene durchgeführten Prüfung der Unterschriften datenschutztechnisch nicht ganz unbedenklich sein. Das hängt aber nicht zuletzt von technischen Details ab, die man erst innerhalb von zwölf Monaten nach Inkrafttreten der Verordnung ausarbeiten und veröffentlichen will.
Liegen die Unterschriften und die sonstigen formalen Voraussetzungen vor, dann will sich die Kommission innerhalb von vier Monaten damit "befassen". Allerdings bleibt es der Kommission belassen, ob sie die Initiative ablehnt und wie ausführlich sie eine Ablehnung begründet. In dem Entwurf steht auch nichts davon, dass sich die Kommissare sich verpflichten, Vorschläge unverändert oder auch bloß in ihrem Kerngehalt unbelassen weiterzuleiten. Bereits im Vorfeld wiesen Rechtswissenschaftler darauf hin, dass die Kommission aus den EBIs durchaus Vorschläge basteln könnte, die den Zielen der Initiatoren diametral entgegengesetzt sind.
Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik kam angesichts dieser Merkmale zu dem Ergebnis, dass es "fraglich" sei, "wie viel Innovationspotenzial EBIs tatsächlich besitzen und inwiefern sie andere Interessen artikulieren werden als jene, die in der bisherigen Gesetzgebung ohnehin weitgehend Berücksichtigung finden." "Aufgrund der Kosten für die Organisation", so dieses Gutachten, dürften EBIs "eher von bereits heute gut organisierten, finanzstarken Einrichtungen durchgeführt werden."1
Diesen Umweg könnten Organisationen beispielsweise dann wählen, wenn der Weg über die "eingespielten Lobbyeinrichtungen mit zahlreichen Mitarbeitern und Einflusskanälen" auf ungewöhnlich viel Kritik stößt, wie beispielsweise beim Vorhaben, Softwarepatente zu legalisieren.
Genutzt werden könnte sie beispielsweise von der Pharma- und Versicherungsindustrie. Der Eifer, mit dem die amerikanische Tea Party gegen Barack Obamas Krankenversicherungspläne demonstrierte, legt zumindest nahe, dass mit entsprechendem finanziellem Aufwand durchaus eine Minderheit von einer Million oder 0,3 Prozent der in der EU Wahlberechtigten mobilisiert werden könnte, die eine EBI zur Privatisierung des Gesundheitswesens einbringt. Weil die Kommission, ganz wie es ihr beliebt, Vorschläge entweder aufgreifen oder nach einem bloßen "Befassen" auch abweisen kann, könnte sie sich, wie Pilatus, die Hände in Unschuld waschen und einen entsprechenden Gesetzentwurf einfach weiterleiten. Und weil das wichtigste und entscheidende Element direkter Demokratie - die Abstimmung durch das Volk - bei der EBI völlig fehlt, könnte so mittels einer Minderheit von 0,3 Prozent gegen den Willen einer klaren Mehrheit entschieden werden. Eventuelle Hindernisse bezüglich der Zulässigkeit solcher Änderungen im Gesundheits- und Sozialbereich könnten dadurch ausgehebelt werden, dass die EBI fordert, die Kommission solle mit der Flexibilitätsklausel aus dem Lissabonvertrag arbeiten.
Weil die EBU der Kommission ähnlich viel Spielraum beim Umgang mit den Parallelpetitionen lässt, wie die Petitionstraditionen an den Höfen absolutistischer Herrscher, kann sie die EBUs auch nutzen, ein Thema aufzugreifen und genau das Gegenteil von dem zu regeln, was die Petenten wollen. Dass die Kommission durchaus zu so etwas fähig ist, bewies sie beispielsweise mit ihrem "Kompromisspapier" zur Legalisierung von Softwarepatenten, das tatsächlich keinen Kompromiss, sondern eine Verschärfung des ursprünglichen Entwurfs war.
Von einem "direkten Mitspracherecht in der Europapolitik" ist dieser Entwurf deshalb weit entfernt. Und warum die EBI die EU "demokratischer" machen soll, wie Kommissionspräsident Barroso öffentlich verlautbarte, ist ebenso wenig ersichtlich. Dass sich die EBI nicht an das Parlament, sondern an die Kommission richtet, wie ihrer Befürworter häufig betonen, nimmt ihr ebenso wenig etwas von ihrem bloßen Petitionscharakter wie die strengeren Voraussetzungen, die für sie gelten.
Dass es bereits EU-Petitionen gab und gibt, steht dem ebenfalls nicht entgegen. Tatsächlich besteht ein formelles europäisches Petitionsrecht nicht, wie oft fälschlich behauptet, erst seit dem Maastrichter Vertrag von 1993, sondern schon seit 1979, als es das erste Europäische Parlament in Artikel 128 seiner Geschäftsordnung aufnahm. Dass die regelmäßig über 1000 Petitionen, die jährlich dort eingehen, regelmäßig auch dann keine Folgen haben, wenn sie siebenstellige Unterstützerzahlen aufweisen, zeigt sich exemplarisch an einer Bittschrift, in der über 1.239.000 Unterzeichner eine Abschaffung des kostspieligen Hin- und Herreisens zwischen den zwei Sitzungsorten Straßburg und Brüssel forderten. An der weitgehenden Unbekanntheit dieser Petition zeigt sich auch, dass es den europäischen Petitionen, anders als manchen deutschen in den letzten Jahren, nicht einmal gelang, mit der Einreichung eine größere Medienöffentlichkeit zu erzeugen.