Einigung nach schweren Verhandlungen erzielt
Die EU-Verfassung soll mehr Demokratie, Effizienz und Bürgernähe bringen
Der 18. Juni 2004 wird künftig wohl in jedem Geschichtsbuch vermerkt sein. Nach zähem Ringen einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder Freitag Nacht auf eine gemeinsame Verfassung. Rund 300 Seiten umfasst der Text, der künftig für 450 Millionen Menschen gelten soll. Das visionäre Unterfangen des EU-Konvents wäre aber durch nationale Interessen in der letzten Runde beschädigt worden, meinen einige Kritiker. Und die Nagelprobe in Sachen Bürgerakzeptanz kommt erst noch, zumal in acht EU-Staaten Referenden abgehalten werden.
Weit über ein Jahr wurde im EU-Konvent über eine gemeinsame Verfassung diskutiert und an Formulierungen gefeilt. Am 18. Juli 2003 war es dann so weit. Der Öffentlichkeit wurde ein Entwurf feierlich präsentiert, der vier Teile umfasst. Im ersten Teil werden die Union sowie ihre Ziele, Zuständigkeiten, Entscheidungsverfahren und Organe definiert. Die auf der Tagung des Europäischen Rates in Nizza im Dezember 2000 verkündete Charta der Grundrechte integrierte man in Teil II. Im dritten Teil, der die Politikbereiche und Maßnahmen der Union betrifft, wurden zahlreiche Bestimmungen aus Verträgen, die sich über die Jahre angesammelt hatten, übernommen. Der vierte Teil enthielt die Schlussbestimmungen, darunter auch die Verfahren zur Überarbeitung der Verfassung.
Gleich beim ersten Anlauf über eine Einigung auf diesen Entwurf, scheiterte das Unterfangen aber Dezember 2003 am Widerstand Polens und Spaniens. Beim jüngsten EU-Gipfel wurde noch fleißig weitergefeilscht, sodass der Durchbruch Freitag Nacht beinahe schon an ein Wunder grenzt. Nun muss das Vertragswerk noch von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. In Deutschland wird die Ratifikation im Bundestag erfolgen. In zumindest acht Ländern - Großbritannien, Tschechien, Dänemark, Irland, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Spanien und möglicherweise noch in Polen - wird es aber eigene Volksabstimmungen dazu geben.
Kernpunkte der neuen Verfassung
Einer der Kernpunkte des vorläufig letzten Beschlusses zur EU-Verfassung ist die Stärkung des Europaparlaments. Es erhält mehr Kompetenzen und im Regelfall entscheidet es bei der europäischen Gesetzgebung mit. Auch bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten müssen künftig die Mehrheitsverhältnisse im Parlament berücksichtigt werden.
Bei der umstrittenen Frage der Zusammensetzung der Kommission gab es nun einen Kompromiss. Bis zum Jahr 2014 entsendet - wie gehabt - jedes Land einen Kommissar nach Brüssel. Um die Effizienz zu erhöhen, wird dann die Zahl der Kommissare auf zwei Drittel der Mitgliedsländer reduziert mit einer echten Rotation. D.h. Jedes Land wird dann für eine gewisse Periode keinen Vertreter in der Kommission stellen.
Heikel war auch der Punkt der Abstimmungsverfahren. Die neue Einigung: Künftig gilt die "doppelte Mehrheit": Ein Beschluss auf der Grundlage eines Vorschlags der EU-Kommission wird gefasst, wenn 55 Prozent oder mehr der Mitgliedstaaten, mindestens aber 15 Länder zustimmen. Diese müssen außerdem mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. In Zusatzklauseln wurden für den Durchschnittsbürger eher schwer durchschaubare Einzelfälle mit veränderten Stimmrechten verankert.
Das Veto-Recht wiederum gilt weiterhin für die Steuerpolitik, für weite Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik. Ebenso erschwert sind Mehrheitsentscheidungen in den Bereichen der Innen- und Justizpolitik.
Soziale Grundrechte und Stärkung der Bürger?
Festgehalten wird in der EU-Verfassung auch die Möglichkeit von Bürgerbegehren. Sollte eine Million Bürger aus EU-Ländern mit Unterschriften ein Gesetz verlangen, so muss die Kommission tätig werden. Im Konventionsentwurf von Juli 2003 finden sich geradezu visionäre Ansätze in Richtung soziales Europa. In Artikel I-3 Absatz (3) wurden Ziele der EU wie "Vollbeschäftigung", "soziale Marktwirtschaft", "nachhaltige Entwicklung" verankert.
Die Union strebt die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums an, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.
Ein Herzstück bildet natürlich die in Teil II implementierte Grundrechtscharta aus dem Jahr 2000. Dabei wurden unter anderem das Recht auf Bildung, die unbedingte Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Armut rechtsverbindlich festgeschrieben. Verstöße könnten von jedem europäischen Bürger eingeklagt werden. Zur Armutsbekämpfung äußerte sich der Konvent u.a. im Artikel II-34. Absatz 3 im Wortlaut:
Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen, nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.
Auch wenn der hier verwendete Begriff "nach Maßgabe" den Einzelstaaten viel Spielraum lässt, sind es wohl gerade die Bestimmungen in Richtung soziale Grundrechte und Nachhaltigkeit, die weite Teile der Bevölkerung der EU-Staaten ansprechen könnten. Bleibt zu hoffen, dass eben solchen Zielen in den weiteren Diskussionen über die EU-Verfassung gebührend Raum und Aufmerksamkeit gegeben wird.
Nationaler Interessenbazar?
Die Änderungen, respektive die endgültige Version der EU-Verfassung, müssen erst übersetzt werden und gehen dann an die Mitgliedsländer. Dass am Donnerstag und Freitag wieder mal hinter verschlossenen Türen zwischen Regierungsvertretern verhandelt wurde, stieß indes etlichen Konventsmitgliedern sauer auf.
Caspar Einem, Europasprecher der österreichischen Sozialdemokraten, hielt in einer Aussendung fest, die Staats- und Regierungschefs hätten deutlich gemacht, dass es ihnen nicht in erster Linie um die Menschen, sondern um nationale Vorteile und Machtkämpfe gehe. "Leider ist dadurch die vom Konvent vorgeschlagene Verfassung insgesamt und die Transparenz der Entscheidungsprozesse im Besonderen verwässert worden", meinte Einem. Noch schärfer formulierte das einzige Konvent-Vollmitglied der europäischen Grünen , Johannes Voggenhuber, sein Unbehagen an der Abschlussrunde.
Mit ihren Änderungswünschen hätten die Staats- und Regierungschefs die "Büchse der Pandora geöffnet". Da seien alle "europäischen Krankheiten" heraus gekommen: "Egoismus, Nationalismus, Feudalismus und Eigenbrötelei", so der EU-Parlamentarier gegenüber der Österreichischen Tageszeitung "Kurier". Für Voggenhuber hat die Verfassung den "historischen Makel", dass sie letztendlich von Regierungen gemacht sei und nicht vom Konvent:
Wenn man eine chronisch erfolglose Methode wie die Regierungskonferenz mit einer erfolgreichen Methode wie dem Konvent verbindet, wird das Ergebnis zwangsläufig negativ. Das ist eine mathematische Folge.
Der "nationale Interessenbasar" habe durchwegs zu Rückschritten gegenüber dem Entwurf des Konvents geführt. Europa sei "weniger demokratisch, weniger sozial und weniger handlungsfähig".
Dahingegen verkaufte der, nach der jüngsten Niederlage bei der EU-Wahl wieder einmal schwer unter Druck geratene, Tony Blair seine Sturheit und das Verhandeln für Nationalinteressen den britischen Bürgern als vollen Erfolg. Er hätte alles durchgebracht, was den Briten gewünscht hätten. Blair würdigte den Beginn eines "neuen Europa der Kooperation, aber ein Europa der Nationalstaaten." Die Idee eines Europäischen Superstaats sei aber tot. Stellt sich nur die Frage, ob damit aber nicht auch der Hauch der Idee oder Vision eines gemeinsamen solidarischen Europas, der im EU-Konvent spürbar geworden war, sich nicht wieder rasch verflüchtigt.