Einrichtungsbezogene Impfpflicht verschärft Pflegenotstand

Alarmierende Zahlen der Bundesagentur für Arbeit: Von Dezember bis März meldeten sich 118.000 Kräfte arbeitssuchend.
Auch in Großbritannien stand sie auf der politischen Agenda: eine sogenannte einrichtungsbezogene Impfpflicht für Berufsgruppen im Gesundheits- und Pflegebereich. Gelten sollte die Regelung für sämtliche Beschäftigten des nationalen Gesundheitsdienstes NHS und planmäßig zum 1. April 2022 in Kraft treten.
Gut einen Monat vorm Startschuss machte die von Boris Johnson geführte Tory-Regierung einen Rückzieher. Aufgrund der veränderten Lage durch die zwar hochansteckende, aber weniger gefährliche Omikron-Variante des SARS-Cov-2-Virus erübrige sich die Maßnahme, gab Anfang März der britische Gesundheitsminister Sajid Javid bekannt. Damit war das Thema vom Tisch – zumindest vorerst.
In Deutschland zog die Ampel-Regierung das Projekt durch. Seit dem 16. März müssen das medizinische und das Pflegepersonal in Kliniken, Altenheimen, Arztpraxen und Rettungsdiensten den Nachweis erbringen, mindestens doppelt gegen Corona geimpft beziehungsweise von einer Covid-19-Erkrankung genesen zu sein. Wer dies nicht kann oder will, droht über kurz oder lang seinen Job zu verlieren.
Für Söder "keine Lösung"
Schon im Vorfeld gab es Befürchtungen, der Schritt könnte die ohnehin angespannte Situation in der Pflege noch verschärfen. Initiativen von Betroffenen auf Bundes- oder Länderebene wie etwa in Baden-Württemberg liefen Sturm gegen das Vorhaben und sagten einen gewaltigen personellen Aderlass voraus. Selbst Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) liebäugelte zwischenzeitlich damit, den Vollzug des Bundesgesetzes auszusetzen. Dieses sei kein "wirksames Mittel mehr", führe nur zu Problemen und sei "leider keine Lösung".
Damit dürfte der CSU-Chef Recht behalten, wie Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) nahelegen. Allein von Dezember 2021 bis Februar 2022 meldeten sich demnach "insgesamt rund 96.000 Personen aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Wirtschaftsabschnitt Q ‚Gesundheits- und Sozialwesen‘ (...) arbeitsuchend". Zu lesen ist dies in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD-Fraktion im Bundestag. Unter anderem wollte der Abgeordnete Jan Wenzel Schmidt wissen, wie sich die Einführung der partiellen Impfpflicht auf das Personaltableau in Krankenhäusern und Seniorenheimen ausgewirkt hat.
AfD macht es sich leicht
"Nahezu 100.000 Pflegekräfte" hätten im "Lichte des Impfzwanges" ihre Arbeit aufgegeben, kommentierte Wenzel Schmidt die Zahlen. "Statt den Pflegenotstand endlich ernst zu nehmen, verschlimmert die Regierung die ohnehin dramatische Situation noch weiter". Sein Fazit: Die rot-grün-schwarze Koalition sei "die größte Gefahr für eine sichere Versorgung".
Natürlich macht es sich der AfD-Politiker mit seinen Folgerungen sehr einfach. Wenn 96.000 Pflegerinnen und Pfleger nach Arbeit suchen, muss dies nicht bedeuten, dass sie davor ihren Job aufgrund der drohenden Impfpflicht an den Nagel gehängt haben oder wegen einer erklärten Weigerung, sich Vorgaben zu beugen, bereits entlassen wurden.
"Eine bereits erfolgte Kündigung ist damit nicht zwangsläufig verbunden", stellte dann auch die Regierung in ihrer Replik klar. Wenngleich Fälle bekannt sind, in denen Arbeitgeber widerspenstige Mitarbeiter schon vor Wirksamkeit des Gesetzes vor die Tür gesetzt haben, waren dies doch Ausnahmeerscheinungen.
Überhaupt lässt der Zeitraum der BA-Auswertung, Dezember 2021 bis Februar 2022, nur mit Einschränkungen Schlüsse zu, wie sich eine erst ab Mitte März geltende Neuregelung auf den Arbeitsmarkt niedergeschlagen hat. Es ist anzunehmen, dass das Gros derer, die sich einer Impfung widersetzen, ihren Arbeitsplatz erst als Ultima Ratio geräumt haben oder noch räumen werden. Schließlich ist die Umsetzung der Impfpflicht ein ziemlich bürokratischer Akt, bei dem den stark überlasteten Gesundheitsämtern das letzte Wort zukommt, ob ein Tätigkeitsverbot verhängt oder ein Bußgeldverfahren eingeleitet wird und wann dies geschieht.
Bundesregierung gibt sich ahnungslos
Tatsächlich könnte der große Exodus in der Pflege sogar erst noch bevorstehen, weil die Ämter schon mit ihrer täglichen Arbeit am Limit sind und die ihr zusätzlich aufgehalste Aufgabe bestenfalls mit erheblichen Verzögerungen meistern werden. Womöglich wird auch die Bundesregierung mit einiger Verspätung erkennen müssen, dass die partielle Impfpflicht große Verheerungen angerichtet hat. Dann allerdings ist das Kind wohl längst in den Brunnen gefallen.
Bisher noch gibt sie die Losung aus: keine Gefahr in Verzug. Ihr lägen auf Grundlage der BA- Daten keine Informationen darüber vor, wie viele Beschäftigte ihrer Tätigkeit in Anbetracht der Neuregelung "nicht mehr oder nur eingeschränkt nachgehen können und sich aus diesem Grund arbeitsuchend gemeldet haben", heißt es in der Antwort auf die AfD-Anfrage.
Hier wiederum macht es sich die Regierung zu leicht. Telepolis hat bei der Bundesagentur für Arbeit die Kennziffern aus der Zeit vor der Corona-Krise sowie die aktuellsten Werte in Erfahrung gebracht. Demnach lag die Zahl der Arbeitssuchenden im Sektor Gesundheit und Soziales zwischen Anfang Dezember 2021 bis Mitte März 2022 bei "knapp 118.000". In nur einem halben Monat kamen damit 22.000 hinzu.
Sinnloses Unterfangen
Im Vergleichszeitraum von Dezember 2019 bis Mitte März 2020 waren es laut BA-Sprecher Christian Ludwig lediglich "rund 74.000" und damit 44.000 weniger als heute. Und während damals 21.000 Pflegekräfte auf Jobsuche waren, sind es heute 41.000. Zwar könne über einen kausalen Zusammenhang mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht "nur spekuliert werden", beschied Ludwig am Dienstag, "er liegt aber nahe".
Die Sinnhaftigkeit einer Impfpflicht mit auf mRNA- und Vektortechnologien basierenden Vakzinen, die dauerhaft weder eine Ansteckung mit Corona noch eine Weitergabe des Virus verhindern, soll hier nicht das Thema sein. Unbestritten sind es aber diese Defizite, die die massiven Vorbehalte gegen das Instrument gerade bei im Gesundheitsbereich Tätigen begründen – neben den nicht aus der Luft gegriffenen Sorgen vor Impfnebenwirkungen und -komplikationen. So ist dann auch davon auszugehen, dass die sich häufenden Medienberichte über Impfschäden mindestens eine Rolle beim jüngsten Scheitern der allgemeinen Impfpflicht im Bundestag gespielt haben.
Die Frage stellt sich seither umso dringlicher: Warum müssen sich ein paar wenige Berufsgruppen weiterhin zwangsweise den Gefahren einer medizinischen Behandlung aussetzen, während die große Bevölkerungsmehrheit sich dieser in freier Entscheidung entziehen kann? Dies dazu bei einer Impfung, die den erklärten Zweck, die sogenannten Vulnerablen, also Menschen mit Vorerkrankungen und höherem Alter, zu schützen, nicht leistet. Wenn überdies das Risiko besteht (und sich der Trend überdeutlich abzeichnet), dass Mediziner und Pflegepersonal in nennenswerter Zahl aus dem Beruf ausscheiden, sich der Pflegenotstand damit zuspitzt und mithin die Versorgung sämtlicher Patientengruppen demnächst nicht mehr zu gewährleisten ist, dann kann und darf es nur einen Ausweg geben: die einrichtungsbezogene Impfpflicht muss gekippt werden.
Von den Briten lernen
Vielleicht hilft den Ampelparteien ein Blick über den Ärmelkanal auf die Sprünge. Die Rückwärtsrolle der britischen Regierung erfolgte auch unter dem Eindruck einer schon Anfang November 2021 in Kraft gesetzten Impfpflicht für Pflegerinnen und Pfleger in Alten- und Behinderteneinrichtungen. In der Folge gingen dem System schätzungsweise Zehntausende Beschäftigte verloren.
Das führte laut Berufsverbänden zu einer "immensen Arbeitsverdichtung" für die verbliebenen Kräfte sowie zur "seit Jahrzehnten massivsten Versorgungskrise im Pflegebereich". Und obwohl die Impfpflicht auch für das Heimpersonal mit Stichtag 15. März ausgelaufen ist, würden sehr viele ihrem früheren Berufsfeld für immer fernbleiben wollen.
Telepolis hat das Bundesgesundheitsministerium am Montag um eine Stellungnahme zu den BA-Zahlen gebeten. Keine Antwort ist manchmal auch ein Statement.
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