Einverleibung
Fraßen unsere Vorfahren den Neandertaler auf?
Immer noch ist es rätselhaft, warum der Neandertaler vor 30.000 Jahren verschwand, nachdem er 10.000 Jahre lang Tür an Tür mit dem modernen Menschen in Europa gelebt hatte. Vor kurzem machten Schabspuren an einem uralten Kieferknochen Schlagzeilen – und es steht die Frage im Raum, ob unsere Vorfahren den menschlichen Verwandten töteten und verspeisten?
Der französische Anthropologe Fernando V. Ramirez Rozzi vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Homo neanderthalensis, unter anderem mit seiner im Vergleich zu uns verkürzten Kindheitszeit (vgl. Klein und knuffig, mit Muskeln und Hirn, aber wenig kreativ).
Nun hat er sich wieder mit einem Neandertalerkind beschäftigt, bzw. dem von ihm verbliebenen Kieferknochen, der in der Höhle „Les Rois“ im Departement Charente gefunden wurde. Ein längst bekanntes Stück, aber die neue Analyse zeigte, dass auf der Oberfläche des ungefähr 28.000-30.000 Jahre alten Knochens Schnittspuren zu erkennen waren, die nur den Schluss zuließen, dass vor langer Zeit das Fleisch mit Steinwerkzeug von ihm abgeschabt wurde. Zusammen mit anderen Forschern verschiedener französischer Institute und des Leibniz-Labor für Altersbestimmung und Isotopenforschung Universität Kiel veröffentlichte Fernando Rozzi die Ergebnisse im Journal of Anthropological Sciences" unter dem Titel "Cutmarked human remains bearing Neandertal features and modern human remains associated with the Aurignacian at Les Rois".
Die Schnitte der Steinklingen, die sich auf dem Knochen finden, entsprechen den Mustern, die beim Entbeinen von Beutetieren ergaben, wenn z. B. Fleisch und Zunge eines Hirsches systematisch von Homo sapiens entfernt wurden, um sie anschließend zu verzehren.
Die Schlagzeilen-Debatte
Die wissenschaftliche Veröffentlichung ist in ihren Schlüssen so vorsichtig, wie das im System vorgesehen ist – sie hätte kaum Schlagzeilen produziert, wenn Fernando Rozzi nicht in der britischen Zeitung Guardian nachgelegt hätte. In dem Artikel How Neanderthals met a grisly fate: devoured by humans wird er wörtlich zitiert:
Neandertaler fanden in unseren Händen ein gewaltsames Ende, und manchmal aßen wir sie auf.
Er zeigt sich überzeugt, dass der Kieferknochen des Kindes beweist, dass der anatomisch moderne Mensch den Neandertaler jagte, tötete und die Leichen in seine Höhlen schleppte, um sie zu verspeisen, und Schädel oder Zähne als Trophäen aufzubewahren. Für ihn ein klarer Fall von Kannibalismus, auch wenn diese Idee als Tabu gerne beiseite geschoben wird.
Im gleichen Artikel widerspricht ihm sein Co-Autor Francesco d'Errico vom Institut für Frühgeschichte in Bordeaux, der auch andere Erklärungen als Kannibalismus für die Schnittspuren für möglich hält. Zum Beispiel hätten die frühen modernen Menschen das Kind bereits tot aufgefunden haben können und die Zähne dann entfernt, um sich daraus Schmuck zu fertigen.
Beweise?
Kannibalismus ist ein Tabubruch – und er wird gerne als Vorwurf in den Raum gestellt, um anderen Kulturen zu diffamieren, bzw. die Unterwerfung der „grausamen Wilden“ zu rechtfertigen. Robinson Crusoe rettet Freitag vor den Menschenfressern seiner Heimat und beweist so seine überlegene Menschlichkeit und Zivilisiertheit – eine Argumentation, die gerne von Kolonialherren benutzt wurde, um ihre Ausbeutung und eigene Grausamkeit zu rechtfertigen.
Der Mythos vom fremden, wilden Menschenfresser erwies sich in der Vergangenheit immer wieder weniger als Realität, als eine Projektion unserer Ängste (vgl. "Ich rieche, rieche Menschenfleisch…"). So möglicherweise auch im Fall des Kindes, dass vor zehntausenden Jahren verstarb. Es geht schon damit los, dass in der Vergangenheit vor der erneuten Untersuchung der fossilen Knochen aus der Höhle „Les Rois“ der besagte Kieferknochen wie viele andere in der selben Schicht gefundene schlicht dem Homo sapiens zugeschrieben wurde.
Erst das Team um Fernando Rozzi entdeckte Merkmale, die sie dazu brachten, diesen Knochen einem Neandertaler zuzuordnen. Allerdings sind neben der Varianz, die Knochen überhaupt morphologisch aufweisen, Kinderknochen besonders schwierig zu klassifizieren, da bei ihnen die Merkmale noch nicht voll ausgeprägt sind. Bis heute tobt die Debatte um den angeblichen, 25.000 Jahre alten Hybrid von modernem Menschen und Neandertaler, das berühmte Kind von Lagar Velho in Portugal (vgl. Wo sind die Neandertaler).
Zudem mögen die Kratzspuren auf dem menschlichen Knochen denen von Tierknochen ähneln, deren Fleisch dem Verzehr diente, aber das ist noch lange kein Beweis für Kannibalismus. Es könnte sich um einen Totenkult gehandelt haben. In der menschlichen Geschichte wurden aus rituellen Gründen immer wieder Schädel vom toten Körper abgetrennt, um besonders bestattet oder aufbewahrt zu werden. Dabei gibt es durchaus auch Praktiken, direkt nach dem Tod – oder nach einer bestimmten Zeit der Verwesung – das Fleisch von den Knochen abzuschälen, um sie zu reinigen und anschließend zum Beispiel in Ossarien oder Beinhäusern beizusetzen.
Also nicht mehr als eine Spekulation – und reißerische Schlagzeilen. Es gibt nach wie vor keinen Beweis, dass die anatomisch modernen Menschen den Homo neanderthalensis jagten – oder umgekehrt. Vielleicht fällt es uns einfach nur schwer zu akzeptieren, dass die Zeit des Neandertalers vor ungefähr 30.000 Jahren auslief, ohne dass unsere Vorfahren wirklich etwas ursächlich damit zu tun hatten?