Einzigartiges Erbe aus der Zeit der Neandertaler

Grabung in Abri Peyroni in der französischen Dordogne, wo kürzlich drei spezielle Knochenwerkzeuge (Lissoirs) zur Lederbearbeitung ausgegraben wurden. Foto: Foto: Abri Peyrony / Pech-de-l’Azé I Projects

Ausgrabung: Feines Werkzeug aus Knochen für die Lederbearbeitung

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Die Neandertaler hatten mehr Fähigkeiten, als ihnen lange zugetraut wurde. Sie verständigten sich durch Sprache, trugen Schmuck und fertigten fein ausgearbeitete Werkzeuge. Jetzt fanden Archäologen in Frankreich 50.000 Jahre alte, präzise bearbeitete Knochen, die dazu dienten, Leder zu glätten.

Im Département Dordogne im Südwesten Frankreichs, an den benachbarten Fundstellen Abri Peyroni und Pech-de-l’Azé, wo in klar zuzuordnenden Schichten schon viele wichtige Neandertaler-Artefakte entdeckt wurden, kamen nun bei Grabungen Knochenstücke zu Tage. Es handelt sich um vom Neandertaler aus Hirsch-Rippen gefertigte Polierwerkzeuge, die dem Ur-Europäer dazu dienten, Leder zu glätten, um es weicher und wasserbeständiger zu machen. Lissoir nennen die Experten solche Geräte, die in sehr ähnlicher Form bis heute verwendet werden.

In der aktuellen Ausgabe der Wissenschaftszeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) stellt das Team um Marie Soressi von der niederländischen Leiden University und Shannon McPherron vom Max Planck Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig die erstaunlichen Spezialwerkzeuge vor.

Vier Ansichten des am vollständigsten erhaltenen Lissoirs, der bei Ausgrabungsarbeiten in der Neandertalerfundstätte Abri Peyroni entdeckt wurde. Foto: Abri Peyrony / Pech-de-l’Azé I Projects

Lange hat den Neandertalern niemand eigene kulturelle oder technologische Leistungen zugetraut. Der Homo neanderthalensis, der 150.000 Jahre lang Europa und Teile Asiens bevölkerte, galt als primitiver Vormensch, der nur Grunzlaute ausstieß und Keulen schwingend Tiere erlegte, die er danach mit groben Stein-Faustkeilen zerlegte. Ein völlig falsches Bild, wie sich zunehmend zeigt.

Der untersetzte Ur-Europäer hatte eine andere Schädelform als der anatomisch moderne Mensch, aber dafür ein voluminöseres Gehirn (vgl. Neues vom wilden Mann). Er unterscheidet sich in vielen körperlichen Merkmalen deutlich vom Homo sapiens, aber er hat hat zumindest geringfügige Spuren in unserem Erbgut hinterlassen (vgl. Anderes Hirn und jede Menge Sex).

Warum er vor ungefähr 30.000 Jahren ausstarb, ist nach wie vor ungeklärt. Anthropologen präsentieren immer wieder neue Theorien über die Gründe, warum ihn der aus Afrika neu zugewanderte moderne Mensch nach vielen Jahrtausenden paralleler Existenz in Europa verdrängte (vgl. Überlebensnachteil Augengröße), überzeugt hat aber bisher keine. Wahrscheinlich hat das Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren dazu geführt, dass er nach und nach endgültig aus der Menschheitsgeschichte verschwand.

Kulturwesen Neandertaler

Der Homo neanderthalensis kümmerte sich um seine Angehörigen, pflegte Verletzte sowie Kranke und bestattete Tote. Er stellte eine Vielzahl verschiedener Werkzeuge her, klebte mit Birkenpech und war ein hervorragender Jäger. Körperbemalung war unter Neandertalern üblich, wie Pigmentfunde nicht nur in Pech-de-l’Azé belegen. Sie trugen Schmuck aus Federn und Krallen von Vögeln oder durchbohrte, mit Ocker gefärbte Muscheln.

Erst vor kurzem erwies sich ein in Italien ausgegrabenes versteinertes Schneckenhaus als ursprünglich rot gefärbtes 45.000 Jahres altes Schmuckstück. Ob das alles aber bedeutet, dass die Neandertaler wirklich symbolische Bedeutungen kannten, bliebt bis heute umstritten. Insoweit ihnen kulturelle Fähigkeiten zuerkannt werden, gelten sie den Experten meist als im direkten Austausch mit dem anatomisch modernen Menschen entstanden. Frühe Kunstwerke wie Höhlenmalereien, kleine Kunstobjekte, wie die auf der schwäbischen Alp gefundenen, oder Musikinstrumente werden stets dem Homo sapiens zugeordnet. Vor der entscheidenden Begegnung mit unseren direkten Vorfahren wird dem Neandertaler nach wie vor sehr wenig zugetraut.

Umso spannender ist der neue Fund. Die spezialisierten Werkzeuge zur Lederbearbeitung sind nach der Untersuchung mit verschiedenen Datierungsmethoden 50.000 Jahre alt - und stammen damit aus der Zeit vor dem Auftauchen des modernen Menschen im heutigen Frankreich. Zudem lagen sie in reinen Neandertalerschichten der altsteinzeitlichen Ausgrabungsorte in Abri Peyrony und Pech-de-l’Azé I. Dort haben danach keine anatomisch modernen Menschen ihre Spuren hinterlassen, weshalb eine Verunreinigung der Fundschicht ausgeschlossen werden kann. Shannon McPherron erklärt:

Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Knochenwerkzeuge aus Abri Peyrony und Pech-de-l’Azé I die besten Belege dafür, dass die Neandertaler selbst eine Technologie entwickelt hatten, die man bisher ausschließlich mit modernen Menschen in Verbindung brachte. Neandertaler stellten manchmal Schaber und sogar Faustkeile aus Knochen her. Sie nutzen Knochen auch als Hämmer, um ihre Steinwerkzeuge zu schärfen. Hier aber haben wir ein Beispiel dafür, dass Neandertaler sich die Biegsamkeit und Flexibilität von Knochen zunutze machten, ihnen eine neue Form gaben und damit Arbeiten verrichteten, die sie mit Steinen nicht hätten ausführen können.

Rekonstruktion, wie die aus den Rippen von Rotwild hergestellten Lissoirs verwendet wurden, um Tierhäute geschmeidiger, glänzender und wasserbeständiger zu machen. Die natürliche Flexibilität der Rippen sorgt dabei für einen ständigen Druck auf die Tierhaut, ohne sie jedoch zu zerreißen. Im unteren Teil der Abbildung sieht man, wie der Abwärtsdruck schließlich zum Bruch führt, bei dem kleine Fragmente - ähnlich den drei gefundenen - entstehen. Foto: Abri Peyrony & Pech-de-l’Azé I Projects

Zunächst waren nur Fragmente gefunden worden, die klare Zuordnung wurde dann durch den Fund der sehr vollständig erhaltenen Lissoir aus Abri Peyroni möglich. Weitere Abgleiche mit früher ausgegrabenen Artefakten werden folgen.

Sehr ähnliche Werkzeuge werden heute noch in der Lederbearbeitung benutzt, ein über 50.000 Jahre erfolgreiches Design, das sich bewährt hat. Die Neandertaler stellten aus Leder unter anderem ihre Kleidung, Decken und wohl auch Zelte her, mit Ahlen wurden Löcher gebohrt, die das Zusammennähen mit Tiersehnen und knöchernen Nadeln ermöglichten. Dennoch äußert sich Marie Soressi bei aller Begeisterung eher vorsichtig:

Sollten Neandertaler diesen Knochenwerkzeugtyp selbst entwickelt haben, übernahmen moderne Menschen die Technologie möglicherweise von ihnen. Als sie Europa besiedelten, brachten moderne Menschen scheinbar nur spitze Knochenwerkzeuge mit, stellten aber wenig später Lissoirs her. Dies ist der erste Hinweis darauf, dass es möglicherweise zu einem "kulturellen" Transfer zwischen Neandertalern und unseren direkten Vorfahren gekommen ist.

Lissoirs wie diese eignen sich so gut zur Bearbeitung von Leder, dass ich 50.000 Jahre nachdem die Neandertaler sie herstellten, über das Internet von einer Website, die traditionelle Handwerkszeuge verkauft, ein fast baugleiches Exemplar bestellen konnte. Dass sich das Werkzeug im Laufe der Zeit kaum verändert hat, zeigt, wie effizient es ist. Es könnte sich dabei um das einzige Erbe aus der Zeit der Neandertaler handeln, das unsere Gesellschaft heute noch nutzt.