El Salvador: Chronologie des Chaos
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"Krieg gegen Gangs": Kein Land der Welt hat mehr Inhaftierte als El Salvador. Der Staat kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, Hetze gegen NGOs und Presse. Über all dem schwebt ein Präsident, der die Demokratie schrittweise aushöhlt.
Mexiko-Stadt – Sie terrorisieren die Bevölkerung, morden, erpressen, vergewaltigen, halten das Land im Würgegriff: kriminelle Banden in El Salvador. Seit Jahrzehnten geht das so. Der amtierende Machthaber greift hart durch.
Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) kritisierte El Salvador kürzlich, denn die Menschenrechtssituation sei "alarmierend". Das rücksichtslose Durchgreifen gegen die Banden fordert seinen Tribut – doch abseits der offiziellen Doktrin kooperiert die salvadorianische Regierung inoffiziell mit den Gangstern.
Die von Präsident Nayib Bukele verhasste Investigativzeitschrift "El Faro" (Der Leuchtturm) veröffentlichte 2020 Belege für eine Allianz der Regierung mit den kriminellen Banden. Zuvor negierte Bukele jede Form der Kommunikation mit den Banden. Laut Recherche begannen Gespräche bereits im Juni 2019 – zur selben Zeit also, als Nayib Bukele frisch gewählt wurde. Geheimdienstberichte und Aufzeichnungen von Gefängnisbesuchen legen nahe, dass zwei wichtige Regierungsmitglieder mindestens zweimal Hochsicherheitsgefängnisse besucht hätten; über ein Dutzend Verhandlungen hätten demnach stattgefunden.
Es handelt sich dabei um Carlos Marroquin, Direktor der Abteilung für den Wiederaufbau des sozialen Netzes sowie Osiris Luna, Leiter des salvadorianischen Strafvollzugssystems und Vizeminister für Justiz und öffentliche Sicherheit. Beide stehen seit 2021 unter US-Sanktionen. Inhaftierte Gangster-Bosse erhielten bestimmte Privilegien, darunter Zugang zu Lieblingsspeisen, das Benutzen von Mobiltelefonen sowie den Zugang zu Prostituierten.
Der Bukele-Partei "Nuevas Ideas" (Neue Ideen) versicherte man im Gegenzug politische Unterstützung bei den Wahlen 2021. Das Paktieren mit den MS-13 und Barrio 18 hatte auch zum Ziel, eine Reduzierung der Mordrate zu erreichen – was tatsächlich funktionierte. El Salvador erreichte die niedrigsten Mordraten seit Jahrzehnten.
Das Volk jubelte. Zudem billigen die Menschen Bukeles Politik, Salvadorianerinnen und Salvadorianer mögen ihren Präsidenten. Verschiedene Umfragen bescheinigen ihm zwischen 75 und 89 Prozent Zustimmung innerhalb der Bevölkerung. Das Meinungsinstitut CID Gallup sieht ihn in einer Erhebung Mitte 2022 gar als beliebtesten Präsidenten Lateinamerikas.
Weniger Morde der Gangs bedeutet jedoch keinesfalls eine Eindämmung deren Macht. In der Sozialstruktur El Salvadors spielen Kriminelle wie die Maras, so werden die Mara Salvatruchas kurz genannt, weiterhin eine bedeutende Rolle. Denn die Banden verdienen ihr Geld mit dem Verkauf von Drogen, Menschenhandel und Schutzgelderpressung.
Dieses Triumvirat des Elends hat durch das Paktieren mit den Gruppen nicht aufgehört. Die Zivilbevölkerung leidet weiterhin unter dessen Willkür. Die informelle Allianz mit den Gangstern passiere "außerhalb der öffentlichen Kontrolle und außerhalb jeder Art von sozialer oder staatlicher Kontrolle", so Manuel Escalante, Jurist am Menschenrechtsinstitut der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador zur Washington Post. Dies könne zu "zahlreichen Machtmissbräuchen und unrechtmäßigen oder illegalen Privilegien" führen, erklärt Escalante. Präsident Bukele, der sich selbst als "coolster Diktator der Welt" bezeichnet, hatte im Prinzip alles im Griff. Vor rund sieben Monaten änderte sich das.
Kein Land hat mehr Gefangene
Ende März tötete die MS-13-Gang 87 Menschen innerhalb von drei Tagen. Präsident Bukele erklärte ein Notstandsregime. Das ist heute – ein Dreivierteljahr später – immer noch intakt. Der Staatschef regiert durch, insgesamt siebenmal wurde der Ausnahmezustand verlängert, zuletzt am 14. Oktober.
Es herrscht nun "Krieg gegen die Gangs". In diesen sieben Monaten wurden mehr als 50.000 Menschen festgenommen. Seitdem sind Inhaftierungen ohne Gerichtsurteil sowie ein längerer Verbleib in Untersuchungshaft problemlos möglich. Behörden können die Versammlungsfreiheit einschränken, das Briefgeheimnis aufheben und Telefonate abhören.
Die Strategie der harten Hand Bukeles basiert jedoch nicht etwa auf neuen Erkenntnissen von Geheimdiensten oder einer besonders fruchtbaren Arbeit der Ermittlungsbehörden. Die Zivilbevölkerung ist, wie so oft, die Leidtragende. Denn viele Menschen werden einfach ohne Beweise eingesperrt. Tattoos am Körper tragen, in der falschen Gegend wohnen, oder einfach nur "nervös aussehen" und ins Profil passen reicht, um auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis gesteckt zu werden.
Die Haftbedingungen sind unmenschlich: massive Überbelegung, Krankheitsausbrüche, Willkür, interne Kämpfe. Knapp 70 Menschen sind seit Ausrufung des Notstandsregimes in Haft gestorben. Mittlerweile sitzen mehr als ein Prozent der salvadorianischen Bevölkerung im Knast. Das macht El Salvador zur Nation mit der höchsten Inhaftierten-Quote weltweit. 2.144 Insassen pro 100.000 Einwohner: Damit überholt das kleine Land Zentralamerikas von der Größe Hessens sogar den einstigen Spitzenreiter USA. Vor dem Ausnahmezustand zählte El Salvador knapp 39.000 Inhaftierte – jetzt sind es 94.000.
Das wahllose Verhaften vermeintlich "verdächtig" aussehender Personen ist keine neue Strategie. Auch Ex-Präsidenten bedienten sich dieser Taktik. Doch in der Vergangenheit kamen Unschuldige auf Anordnung eines Richters früher oder später wieder frei. Jetzt ist die Sache anders: Da die Regierung faktisch die Kontrolle über die Justiz übernommen hat, wird die Gewaltenteilung unterlaufen. Das bedeutet Narrenfreiheit für die Regierung und somit willkürliche Inhaftierungen ohne Gegenkontrolle.