Emil und die Nazis: Geschichte einer Verstrickung

Seite 2: Bären, Zuchtmeister und andere Deutsche

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Der alte und der junge König ist eigentlich ein Film über einen König, einen Kronprinzen und dessen besten Freund. Der Freund hieß Hans Hermann von Katte, war Leutnant der preußischen Armee, teilte Friedrichs Liebe zum Flötenspiel und zur Literatur und vielleicht hin und wieder auch sein Bett (das ist umstritten). Um dem strengen Vater zu entkommen, der ihm mit seinen Erziehungsmethoden die "effeminierten" Neigungen austreiben wollte, plante Fritz 1730 die Flucht nach Frankreich. Der Plan misslang, Katte wurde durch einen Brief als Mitwisser entlarvt. Der König ließ beide wegen Fahnenflucht vor ein Kriegsgericht stellen, das sich für den Kronprinzen nicht zuständig erklärte und Katte zu lebenslanger Festungshaft verurteilte. Friedrich Wilhelm I. wandelte die Haft in ein Todesurteil um und befahl, dass sein Sohn der Hinrichtung beiwohnen musste. Fritz tat das - je nach Version - entweder mannhaft oder schreiend oder weinend oder gar nicht, weil er vorher in Ohnmacht gefallen war.

Hans Hermann von Katte

Das Schwert, mit dem der Leutnant enthauptet wurde, bewahrt das Museum der Stadt Brandenburg an der Havel auf. Es konkurriert mit einem zweiten Katte-Richtschwert, das sich im Märkischen Museum in Berlin befindet. Das Brandenburger Exemplar konnte man noch auf dem Gutshof der Familie Katte besichtigen, als Theodor Fontane 1863 einen längeren Text über den Fall veröffentlichte (Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Band über das Oderland). Unbestritten ist, dass die Hinrichtung am 6. November 1730 in der Festung Küstrin stattfand. Fontane berichtet allerdings von sieben rivalisierenden Plätzen, an denen das Haupt des Leutnants gefallen sein soll, und für das Zimmer, von dem aus der Kronprinz dabei zusah (oder nicht), gibt es mehrere Kandidaten. Auch alle anderen Aspekte der Geschichte sind in den unterschiedlichsten Varianten überliefert. Diese Vielfalt lässt darauf schließen, dass die "Katte-Tragödie" irgendwie wichtig ist, und zugleich extrem interpretationsbedürftig. In der Tat hat sie das Zeug zum Gründungsmythos. Der 6. November, schreibt Fontane, "veranschaulicht in erschütternder Weise jene moralische Kraft [seine Hervorhebung], aus der dieses Land, dieses gleich sehr zu hassende und zu liebende Preußen, erwuchs".

Friedrich Wilhelm I.

In der von Fontane diagnostizierten Tragödie geht es um ritterliche Gesinnung, Gehorsam, Pflichterfüllung, die Gleichheit aller vor dem Gesetz, den Verrat am eigenen Land und um die Staatsraison. Das zeigt schon, dass die Geschichte vielseitig verwendbar ist, dass sich das eine damit demonstrieren lässt und auch das Gegenteil davon. Zugleich kann man sich auf eine - mal mehr und mal weniger gesicherte - historische Wahrheit berufen und behaupten, nur nachzuerzählen, was sich so und nicht anders abgespielt habe. Für Propagandazwecke ist so etwas ideal. Goebbels liebte solche Historienstoffe, weil er genau wusste, dass sich in ihnen ordentlich NS-Ideologie unterbringen ließ und man dem Publikum, wenn halbwegs geschickt angestellt, eine Deutung nahe legen konnte, in der es Parallelen zwischen einer Episode der deutschen Geschichte und der Gegenwart gab. So wurde der Eindruck erweckt, dass das Dritte Reich am Ende einer Entwicklung stand, die zweihundert Jahre vorher, im alten Preußen, begonnen hatte (oder auch, je nach Bedarf, in einer anderen Epoche). Damit legitimierten die Nazis ihr politisches Projekt.

Eine Tragödie, wie sie der allem Preußisch-Militaristischem, Obrigkeitsstaatlichem und Volkstümelndem gegenüber sehr misstrauische Fontane eher nicht geschrieben hätte, war das am 6. November 1914 (dem Jahrestag der Hinrichtung) am Hoftheater Dresden uraufgeführte Stück Katte des völkischen und deutschnationalen Schriftstellers und Malers Hermann Strübe, der unter dem Pseudonym Hermann Burte schrieb. Burtes "Schauspiel in 5 Aufzügen", sein erfolgreichstes Stück, wurde bis 1945 an rund 50 deutschen Bühnen inszeniert und erschien gedruckt in ständig neuen Auflagen (letzte Ausgabe 1943), war also bis Ende des Zweiten Weltkriegs immer präsent, auch wenn es danach in Vergessenheit geriet. Der Kritiker Paul Wittko, ein Gegner der Weimarer Republik (Nietzsche pries er als den Mann, der zur Umkehr von Demokratie und Sozialismus aufgerufen habe), veröffentlichte 1928 in der Zeitschrift Deutsches Volkstum einen Aufsatz über Burte, dem gut zu entnehmen ist, welche politische Richtung das Stück einschlägt.

Wittko sieht in Katte "ein Werk von rassigem, reinem, lauterem Deutschgehalt, stolz und streng in der Gesinnung", ein "Bühnenwerk von der Pflichterfüllung als oberster Mannestugend und Wurzel der Staatskraft" und dergleichen. "Burte", so Wittko, "ist in diesem Werke ein leidenschaftsheißer deutscher Zuchtmeister zum sich selbsthinopfernden Vaterlandsdienste, dessen unsere Zeit vor allem anderen bedarf." Fünf Jahre nach dem Erscheinen dieser Zeilen kam ein Zuchtmeister aus Österreich an die Macht, und dann erfuhren die Deutschen, wohin das mit dem "selbsthinopfernden Vaterlandsdienste" führen konnte. Später, als die Überlebenden auf Distanz zum Dritten Reich und den da gepflegten deutschen Tugenden gegangen waren, musste sich auch Hermann Burte hin und wieder sagen lassen, dass er auf der Seite der Nazis gestanden und diesen Vorschub geleistet habe. Zum Glück gab es noch Joseph Goebbels, oder vielmehr dessen Tagebuch, in das er zwanghaft Sachen notiert hatte, um sie der Nachwelt zu hinterlassen oder - die wahrscheinlichere Variante - um eine Gedächtnishilfe für seine geplanten Memoiren zu haben, die er dann nicht mehr schreiben konnte. "Abends Deutsches Theater ‚Katte’ von Burte", hielt der Minister am 1. Dezember 1935 fest. "Das Stück ist ein Attentat auf die Tränendrüsen. Zu sentimental. [...] Ich lerne Burte kennen. Keine Leuchte. Ein alemannischer Spießer."

Diese Goebbels-Worte dienen Burte-Freunden heute als Beleg dafür, dass der Dichter eben doch kein Nazi war. Wäre er sonst so geschmäht worden? Ich würde sagen: Goebbels nahm keinen Anstoß an der politischen Ausrichtung des Stücks, sondern nur an der Figur des Kronprinzen. Darin war er sich mit Wittko einig, der 1928 bei allem Lob bemängelt hatte: "Indes, der junge Fritz läßt die Kralle des Löwen vermissen. Allzu unkörperlich bleibt er, skizzierter Schattenriß." Der Fritz des Steinhoff-Films, der Ende 1935 längst seinen Siegeszug durch die deutschen Kinos und durch Galavorstellungen mit vielen Uniformen angetreten hatte, war da von einem ganz anderen Kaliber. Ihn hatte Goebbels wohl im Kopf, als er die Katte-Inszenierung im Deutschen Theater sah und für zu sentimental befand. Dessen ungeachtet hatte sich inzwischen bewahrheitet, was Wittko 1928 über den eigentlichen Helden des Stücks, Fritzens Vater, geschrieben hatte: "Friedrich Wilhelm, dieser deutsche Bär, ragt, in seiner Schönheits- und Kulturablehnung, als eherner Erzieher zum Staate in fernste Zukunft hinein." Aus Sicht der Nazis störte daran nur, dass der Sohn, weil nicht löwenhaft genug, neben diesem Bären von einem Vater etwas verblasst. Steinhoff hatte kürzlich gezeigt, wie man es anders macht. Das mit dem "Erzieher" kehrte 14 Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, zu Burtes 80. Geburtstag, auf eine unheimliche Weise wieder. Darum hat sich der Dichter einen Exkurs verdient.

Der Führer und sein Werk

Strübe alias Burte, auch als alemannischer Mundartdichter tätig und 1936 in die NSDAP eingetreten, brachte es auf eine stattliche Zahl von Auszeichnungen, die von einer beunruhigenden Kontinuität zwischen Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland zeugen. Für den Roman Wiltfeber. Der ewige Deutsche, in dem schon das Hakenkreuz als politisch (wenn auch nicht parteipolitisch) aufgeladenes Heilszeichen auftaucht, erhielt er 1912 den Kleist-Preis. Es folgten, in Auswahl: Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg (1924), Schillerpreis (1927), Johann-Peter-Hebel-Preis (1936), Goethe-Medaille (1939), Aufnahme in die von Hitler und Goebbels erstellte Gottbegnadeten-Liste (1944), Ehrenring der deutschen Lyrik (1953). Weil manch ein Preis mitunter wirkt, als bestünde die Aufgabe darin, sich vom Werk des wehrlosen Namensgebers zu distanzieren, erhielt Burte 1957 auch noch die Jean-Paul-Medaille. Jean Paul - dies für alle, die ihn nicht kennen - war ein wunderbarer Autor, der mit Antisemitismus, Blut-und-Boden-Mythologie und dumpfem Nationalismus nichts am Hut hatte.

Selbstporträt vuner Hermann Burte, um 1941. Bild: Hermann-Burte-Archiv Maulburg. Foto: Albärt. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Bei Burte ist das anders. Sein Roman Wiltfeber kommt mit einem mir grundsätzlich nicht unsympathischen Sturm und Drang daher, ist gut geschrieben (den altertümlichen Stil dürfte der Großteil des heutigen Publikums allerdings als unleserlich empfinden), Nietzsche ist ganz wichtig, und ab und an scheint der frustrierte Romantiker durch wie etwa in den Szenen, in denen sich Martin Wiltfeber zwischen der blonden und der dunklen Heldin entscheiden muss wie Ivanhoe bei Walter Scott (den beiden Frauen, Ursula und Madlee, sind zwei gleichnamige Gedichtbände Burtes gewidmet). Die Unlösbarkeit des Konflikts führt zu einem Superorgasmus in der Berghütte, mit vom Himmel kommender Ejakulationsbegleitung. Ich unterstelle mal, dass nicht jeder Leser des Romans bis zum Schluss durchhält, weil nach einem verheißungsvollen Anfang (der Held kehrt nach neunjähriger Abwesenheit in sein Dorf zurück, beobachtet die schöne Magdalena, die sich auszieht, um im Bach ein Bad zu nehmen und teilt uns mit, dass er sie vor neun Jahren "im biblischen Sinne" erkannt, also mit ihr geschlafen hat) doch arg viel geredet wird. Diesen Ungeduldigen entgeht ein Knalleffekt, der sich sehen lassen kann. Das schlägt ein mit einer solchen Wucht, dass da kein Gras mehr wächst.

Leider ist das Buch auch ein Blut-und-Boden-Roman mit Germanenkram, Turnverein und Figuren, die als Sprachrohr des Autors auf die Juden schimpfen. Es wird über das reine deutsche Blut schwadroniert, über Mischlinge, die sich in der Jauchegrube richtig wohl fühlen (die mit dem reinen Blut verlieren in der Jauche ihre Lebenskraft), und auch sonst entdeckt man einiges in dem Buch, mit dem sich Burte als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus qualifizierte. Aus Goebbels’ Spießer-Verdikt, könnte man vermuten, spricht der Neid des verkannten Dichterkollegen. Der von ihm verehrte Adolf Bartels nämlich, von den Nazis als "völkischer Vorkämpfer" mit einer Reihe von Auszeichnungen bedacht und Mitglied des "Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben", führt die literarischen Hervorbringungen des Paul Joseph Goebbels in seiner Geschichte der deutschen Literatur ("Kleine Ausgabe" von 1934) im Rahmen einer seitenlangen Auflistung zur "neuesten deutschen Dichtung" auf (kommentarlos und so, als müsse man das eben machen, weil der Mann Propagandaminister ist), während er für Burte ein Sonderlob bereit hält. Bartels findet Wiltfeber zwar zu erotisch, stellt Burte aber an die Spitze junger deutscher Dichter, die sich rund um den Ersten Weltkrieg vom "verkappten jüdischen Destruktivismus" befreit hätten, statt "dem jüdischen Banne" zu verfallen wie viele ihrer Altersgenossen.

Der Gelobte revanchierte sich zum 80. Geburtstag des bekennenden Antisemiten mit "Worten an Bartels", in denen er dessen "Wert für Volk und Reich ermisst" und ihn zum "Dichter", "Sichter" und "Richter" erklärt. Bei "Sichter" und "Richter" darf es einen auch mal gruseln, wenn man daran denkt, was im Dritten Reich mit den Juden als den "Verunreinigern" des deutschen Blutes passierte; die von Burte entdeckte Jauchegrube wurde da ohne Rücksicht auf Verluste trockengelegt, damit die Deutschen reinen Blutes nicht weiter ihrer Lebenskraft beraubt werden konnten. Die "Worte an Bartels" sind im Sammelband Sieben Reden von Burte (1943) abgedruckt, genauso wie sein Vortrag "Die europäische Sendung der deutschen Dichtung", den er im Oktober 1940 beim "Deutschen Dichtertreffen" im Nationaltheater in Weimar hielt. Darin schafft er es, von Luther (hat mit seiner Bibelübersetzung "das tiefste, mächtigste, folgerichtigste und unbedingteste Buch gegen die Juden geschrieben") über Goethe, Schiller und Hölderlin zum Verfasser von Mein Kampf zu kommen, als wäre das eine logische, vom echten Germanentum durchdrungene Entwicklung: "Ein Neues ist in die Welt gekommen, neu auch in der Art, in der es kam! - Ein Buch wurde geschrieben, keine Dichtung im niederen gemeinen Sinne, und doch ein Gedicht, ein Gedicht von einem neuen Volke in einem neuen Staate! Der es schrieb, hieß Adolf Hitler!"

Und weiter: "Aus der Tiefe des Herzens danken wir dem Führer, aus der Fülle des Glaubens erhoffen wir den künftigen großen Dichter! Er wird zu Adolf Hitler stehen wie Goethe zu Friedrich dem Großen. […] ’Wir grüßen den Führer!’ so heißt die schöne, innige Wendung, wenn das Volk aufsteht, um seinem Retter zu danken, seiner in Liebe zu gedenken, sich in ihm zu finden und zu fühlen! Nach ihm, liebe Kameraden, grüßen wir hier den Dichter, den unbekannten, den kommenden, künftigen, der uns erstehen wird und - wir wiederholen es bewusst! - muss, ebenso zu höherem Lebensgehalt und stärkerer Dichtergewalt gefördert durch den ungeheuren Weg und das außerordentliche Werk Adolf Hitlers, wie Goethe einst durch die Taten Friedrichs des Großen." 1940 war der Gedanke, eine Verbindungslinie zwischen dem Diktator und dem Preußenkönig zu ziehen, alles andere als originell. Im Dritten Reich waren solche Vergleiche an der Tagesordnung. Filme mit diesem König hatten deshalb automatisch einen Bezug zu den Nationalsozialisten, auch wenn Hitler mit keinem Wort erwähnt wurde. Das musste jedem klar sein, der da mitmachte. Hinterher etwas anderes zu behaupten ist dreist.

Ein paar Kilometer vom Nationaltheater entfernt, in dem Burte den Führer als Nachfolger von Friedrich dem Großen pries und das Kommen des großen Nazi-Dichters herbeisehnte, auf dem Ettersberg, stand damals noch die alte Eiche, die Goethe - zumindest der Legende nach - gern aufsuchte, um sich unter ihren Ästen und Blättern zu einigen seiner Werke inspirieren zu lassen. Um die "Goethe-Eiche" herum hatte die SS 1937 von Häftlingen den Buchenwald roden, einen elektrischen Stacheldrahtzaun und Wachtürme bauen lassen. Das Konzentrationslager Buchenwald, eines von den drei größten KZs auf deutschem Boden, war ein integraler Bestandteil des "außerordentlichen Werks Adolf Hitlers", für das Burte seinem Heilsbringer dankte. Im Oktober 1940, als er seinen Lobgesang anstimmte, konnte keiner mehr behaupten, von nichts zu wissen. Im Bahnhof von Weimar kamen seit drei Jahren die Häftlingstransporte an. Im Sommer 1940 war auf dem Ettersberg das Krematorium in Betrieb gegangen, das die SS bei der Firma Topf & Söhne in Auftrag gegeben hatte, weil das städtische Krematorium überlastet war und die ständig wachsende Zahl der Leichen nicht mehr bewältigen konnte.

Der Ministerpräsident gratuliert dem "Nazidichter"

Durch die Beschäftigung mit dem Ehrenbürger der Orte Maulburg (da wurde Strübe alias Burte 1879 geboren) und Lörrach (da starb er 1960) lernt man viel darüber, was das für ein Deutschland war, gegen das die 68er später aufbegehrten. Es war dasselbe Land, um das vorwegzunehmen, in dem Der alte und der junge König, ein Nazi-Propagandafilm erster Güte, von der FSK wieder freigegeben wurde, ab 12 Jahren. Die 1958 erteilte Freigabe gilt bis heute. So sind die Regeln. Um daran etwas zu ändern, müsste der Rechteinhaber oder der Anbieter der DVD bereit sein, den happigen Preis zu zahlen, den die FSK für ein neues Prüfungsverfahren in Rechnung stellt. Die heutigen Sachverständigen der FSK urteilen in einem anderen Geist als ihre Vorgänger anno 1958. Also könnte dabei herauskommen, dass das Freigabealter auf 16 oder gar 18 Jahre heraufgesetzt würde. Warum sollte ein kommerzieller Anbieter dafür Geld ausgeben? Wie üblich ist das nicht als Forderung nach einem staatlichen Eingreifen zu verstehen. Es ist vielmehr als Empfehlung gemeint, sich nicht auf Freigabe-Aufkleber der "Freiwilligen Selbstkontrolle" zu verlassen, wenn man entscheidet, was die Kinder sehen dürfen und was nicht. Doch zurück zu Hermann Burte.

1959 trug die Stadt Lörrach auch dem Bundespräsidenten, dessen Sohn in der Gegend wohnte und der dort gern Urlaub machte, die Ehrenbürgerwürde an. Theodor Heuss lehnte mit der Begründung ab, dass er unter keinen Umständen "mit diesem Mann eines grobschlächtigen Antisemitismus und eines bramarbasierenden Nationalismus in eine Reihe gestellt werden" oder diesem gar als Ehrenbürgerkollege bei einem Fest begegnen wolle. Er sei es seinem Amt schuldig, "zu diesem Typus absolut Distanz zu halten". Kurz davor hatte man dem allseits verehrten Heimatdichter in Maulburg bei Lörrach (da war er 1929 Ehrenbürger geworden) eine schöne Geburtstagsfeier ausgerichtet, mit sich über mehrere Tage erstreckenden Veranstaltungen und unter Einbeziehung der Schulen in der Gegend. An die Schüler wurde eine Auswahl mit Burtes Schriften verteilt (natürlich ohne die erotischen Gedichte), damit sie erfuhren, was gute deutsche Literatur ist.

Zu den Gratulanten gehörten der Regierungspräsident, der Landrat und prominente Geistliche. Dr. Herbert Böhme, so der Schwarzwälder Bote, überbrachte die Glückwünsche von "prominenten Schriftstellern, Gelehrten, Musikern, Kunstmalern und Industriellen". Dr. Böhme, früher Reichsfachschaftsleiter für Lyrik, Lektor beim nationalsozialistischen Franz-Eher-Verlag (in dem Mein Kampf erschienen war) sowie Autor der unzählige Male abgedruckten Gedichte "Der Führer", "Bekenntnis zum Führer" und "An Adolf Hitler", tat dies in seiner Funktion als Präsident des rechtsextremen Deutschen Kulturwerks Europäischen Geistes, das er 1950 gegründet hatte, um verdiente Kulturschaffende der NS-Zeit zu fördern und zu unterstützen (Burte war Ehrenmitglied und seit 1953 Träger des "Goldenen Ehrenrings" des DKEG). Dr. Rupert Gießler, Chefredakteur der Badischen Zeitung und Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes, war angereist, um eine Rede zu halten, in der er - laut Spiegel - den "im besten Sinne erzieherischen Zug" im Werk des Hermann Burte hervorhob. Ob Dr. Gießler da wohl an Friedrich Wilhelm I. dachte, den Kopf-ab-Erzieher im Katte-Stück?

Heuss’ Verweigerung der Ehrenbürgerwürde, der Artikel im Spiegel und die Berichte in anderen überregionalen Blättern wie der Süddeutschen Zeitung, wo man von Burte und seinen Laudatoren auch nicht sonderlich begeistert war, lösten 1959 einen Skandal und eine erregte Debatte aus, in der das Burte-Lager der Gegenseite vorwarf, vereinzelte, in grauer Vorzeit geschriebene und für Burtes Werk nicht repräsentative Passagen herausgesucht zu haben, um eine Pressekampagne gegen den Dichter entfachen zu können. Gerhard Storz, Kultusminister von Baden-Württemberg und Vater des Autors und Filmemachers Oliver Storz (Die Frau, die im Wald verschwand), sah sich zu einem Leserbrief an den Spiegel (10.6.1959) genötigt, in dem er wissen ließ, dass er in Unkenntnis von Burtes Werk nicht sagen könne, ob Burte ein "Nazidichter" sei oder nicht. Aufgrund eines bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Auftrag gegebenen Gutachtens hätten er und die Landesregierung jedoch davon Abstand genommen, ihn öffentlich zu ehren.

Der Spiegel berichtete nach den Feierlichkeiten zu Burtes 80. Geburtstag von Plänen der Stadt Schopfheim, eine ihrer Schulen in "Burte-Gymnasium" umzubenennen. Diese Ehrung wurde dem inzwischen verstorbenen Dichter dann aber in Efringen-Kirchen zuteil, wo man ihn 1957 ebenfalls zum Ehrenbürger gemacht hatte und 1962 die "Hermann-Burte-Schule" einweihte. Das gab wieder Ärger, als 1976 eine "Neuvermessung des alemannischen Dichters, Redners und Malers Hermann Burte" im Radio lief (SWF, Wiederholung 1979), bei der Wolfgang Heidenreich herausarbeitete, wie aus Burtes Germanenkitsch Propaganda für Adolf Hitler wurde. 1979 untersagten die zuständigen Stellen, das Oberschulamt und das Regierungspräsidium Freiburg, den Verantwortlichen in Efringen-Kirchen, ihre Schule weiterhin nach ihrem Ehrenbürger zu benennen.

1989 geriet Golo Mann unter Beschuss, weil er der Hermann-Burte-Gesellschaft beigetreten war. Scheinbar kannte er nur Burtes Heimatgedichte in alemannischer Mundart, die er sehr schätzte. Er las nun mehr von ihm und teilte dann dem Spiegel mit, dass er seinen Beitritt rückgängig machen werde. Im Prosawerk des Dichters habe er einen Sadismus gefunden, der ihm "höchst widerlich und rätselhaft" sei. Und weiter: "Noch im Jahr '53 hatte er Hitlers Regierung als einzige dem deutschen Volk angemessene bezeichnet. Das ging mir nun zu weit." 1953 war Burte 74 Jahre alt. 1959, zum 80. Geburtstag, überbrachte der damalige Freiburger Regierungspräsident auch die Glückwünsche des CDU-Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger, von 1966 bis 1969 Bundeskanzler. Was Kiesinger von Burte gelesen hatte ist unbekannt, des Kanzlers eigene NS-Vergangenheit hingegen nicht.

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