Energieversorgung: Russisches Erdgas bleibt unverzichtbar
Eine neue Studie untersucht die Entwicklungen bei Angebot und Nachfrage von Erdgas in Europa. Verzicht auf russisches Erdgas bedeutet: den Tausch einer Abhängigkeit durch eine andere. Es gibt weitere Unsicherheiten.
Die Berichte über die wirtschaftliche Entwicklung in Europa sind erschreckend: Mit den westlichen Sanktionen gegen Russland ist eine Energiekrise über den Kontinent hereingebrochen, die zu einem Verlust der industriellen Basis führen kann.
Telepolis hatte in der letzten Zeit viel über die Auswirkungen auf Deutschland geschrieben: Erste Unternehmen stoppten die Produktion; die Produktion von Kunstdünger ging zurück und in der Folge fehlen auch AdBlue und Kohlendioxid für Brauereien.
Ähnliche Nachrichten sind auch aus anderen europäischen Ländern zu vernehmen: In Frankreich geht der Glashersteller Duralex in einen "Energie-Lockdown". In Italien schloss mit Yara der einzige Produzent von Ammoniak und Harnstoff seine Fabrik; Keramikproduzenten und Textilhersteller schlagen Alarm. Auch Polen trifft es hart, wie das Handelsblatt am Donnerstag berichtete.
Der Verband der europäischen Metallindustrie (Eurometaux) erklärte, dass bereits die Hälfte der Zink- und Aluminiumproduktion in Europa stillstehe. Über den Kontinent ziehe ein "perfekter Sturm" aus explodierenden Energiepreisen und zureichenden Energieressourcen.
In einem Brief an Institutionen der Europäischen Union, aus dem das Handelsblatt zitiert, heißt es: Man rechne nicht damit, dass sich die Branche schnell erhole; auch im nächsten Jahr könnten weitere Werksschließungen folgen.
Die EU-Länder streben angesichts des Krieges in der Ukraine danach, sich von Kohle, Erdöl und -gas aus Russland unabhängig zu machen. Was der Kontinent deshalb im Moment durchmacht, sind die Geburtswehen einer neuen Zeit, in der die fossilen Energieträger kaum noch eine Rolle spielen werden.
Von Russland nicht mehr abhängig – von den USA dagegen umso mehr
Für die Übergangszeit wird noch Erdgas benötigt – und das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI) hat in einer aktuellen Studie untersucht, wie sich die Gasversorgung und -nachfrage bis 2030 verändern wird.
Dabei wurden sechs Szenarien durchgerechnet, bei denen die Parameter von Angebot und Nachfrage verändert wurden. Vor allem wurde untersucht, wie sich ein teilweiser oder vollständiger Boykott von russischem Erdgas auswirken könnte.
Kombiniert wurde das auch mit verschiedenen Gasbedarfen. Faktoren sind hier die Klimaziele und unter anderem der Rückgang der Nachfrage durch Elektrifizierung, gesteigerter Effizienz und durch Substitution mit Biomethan.
Das vielleicht wichtigste Ergebnis: Würden die EU-Länder auf den Import russischen Erdgases verzichten, würden sie die Abhängigkeit von einem Land gegen die eines anderen Landes eintauschen. Würde man komplett auf russisches Erdgas verzichten, dann würde knapp 90 Prozent diese Menge mit Importen aus den USA gedeckt werden müssen.
Das liegt unter anderem daran, dass sich Importe via Pipeline aus Norwegen, Nordafrika und Aserbaidschan nur in begrenztem Umfang steigern lassen. Der Bedarf müsste dann durch Importe von Flüssigerdgas (LNG) gedeckt werden.
Die USA könnten LNG allerdings in großem Umfang zur Verfügung stellen und Russland als ehemals größten Gaslieferanten der EU ablösen. Sollte es keinen Gashandel zwischen Russland und der EU geben, könnten laut Studie je nach Szenario bis zu 136 Mrd. Kubikmeter US-amerikanisches LNG im Jahr 2030 in die EU importiert werden.
Energiewirtschaftliches Institut Köln (EWI)
Zeitnah werden die USA Russland demnach nicht als Hauptlieferant von Erdgas ablösen können. Und es ist auch wenig wahrscheinlich, dass LNG-Importe günstig im Preis sein werden. Deshalb werden die EU-Länder dauerhaft mit hohen Gaspreisen rechnen müssen, wenn auf russische Importe ganz verzichtet wird.
Aufbau notwendiger Kapazitäten in den USA unsicher
Das EWI hebt auch hervor: Alles hängt davon ab, ob in den USA ausreichend Kapazitäten aufgebaut werden, um Erdgas zu verflüssigen.
Der Bau von Verflüssigungskapazitäten ist aufwendig und teuer. Investoren warten daher üblicherweise auf längerfristige Zusicherungen.
Eren Çam, Co-Autor der Studie
Doch die EU-Länder werden vor dem Hintergrund der Klimaziele kaum diese Zusicherungen geben können. Da die Erdgasnachfrage in Europa mittel- bis langfristig abnehmen sollte, heißt es beim EWI, bestünden jedoch erhebliche Unsicherheiten, ob diese Investitionen tatsächlich realisiert würden.
Das Ergebnis der Studie lässt sich auch so interpretieren: Ohne russisches Erdgas lässt sich die Versorgungslücke in Europa nicht kurz- oder mittelfristig schließen. Es sei denn, man provoziert, dass der Gasbedarf durch eine Deindustrialisierung Europas deutlich absinkt.
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