Hohe Energiepreise: Erste Unternehmen stoppen Produktion in Deutschland
Wirtschaftsminister Robert Habeck spricht von einem "alarmierenden" Trend und von einem strukturellen Bruch. Laut Analysten steigt in der Bundesrepublik das Risiko von sozialen Unruhen deutlich.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigte sich am Wochenende davon überzeugt: In Deutschland wird es in Herbst und Winter keine sozialen Unruhen geben. Ob er damit recht behalten wird, ist längst noch nicht ausgemacht.
Die Bundesrepublik gehört in Europa zu den Ländern, in denen das Risiko sozialer Unruhen am deutlichsten gewachsen ist, heißt es in einer aktuellen Analyse von Verisk Maplecroft, einem auf Risikoanalysen spezialisiertem Unternehmen.
Mit einer Inflation von über sechs Prozent erreichten die sozioökonomischen Risiken in mehr als 80 Prozent der Länder – weltweit – ein kritisches Niveau. Fast die Hälfte aller Länder werden inzwischen als Hoch- oder Extremrisiko eingestuft. Und für eine große Anzahl von Ländern wird in den nächsten sechs Monaten eine weitere Verschlechterung erwartet.
Welche Folgen dieser Trend für Deutschland haben wird, hängt auch davon ab, ob es der Bundesregierung gelingt, die Inflation zu lindern. Nur eine deutliche Senkung der Lebensmittel- und Energiepreise könne den negativen globalen Trend zu zivilen Unruhen aufhalten, heißt es in der Analyse. Doch die Rezessionsängste würden weltweit zunehmen und die Inflation werde im kommenden Jahr voraussichtlich schlimmer sein als 2022.
Viel wird auch davon abhängen, ob sich die Bundesregierung die Ruhe im Land mit weiteren Entlastungspaketen erkaufen kann. Bei Verisk Maplecroft heißt es:
Die explosivsten zivilen Unruhen werden wahrscheinlich dort auftreten, wo die Möglichkeiten des Dissenses geringer werden und wo die Möglichkeiten, die Bevölkerung vor dem Anstieg der Lebenshaltungskosten zu schützen, begrenzt sind.
Die Bundesregierung hat am Wochenende zwar ein weiteres Entlastungspaket für die Bürger angekündigt, doch sie kann kaum noch darüber hinwegtäuschen, dass die aktuelle Krise zunehmend die industrielle Substanz im Land angreift.
Industrielle Substanz in Deutschland wird durch hohe Energiepreise angegriffen
In Deutschland stoppen inzwischen Unternehmen ihre Produktion, weil die hohen Energiepreise einen wirtschaftlichen Betrieb kaum noch ermöglichen. Das ist ein Trend, den Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) laut Financial Times als "alarmierend" bezeichnet. Denn einige Unternehmen hätten "die Produktion ganz eingestellt", so Habeck.
Das ist keine gute Nachricht, denn es kann bedeuten, dass die betreffenden Industrien nicht nur umstrukturiert werden, sondern einen Bruch erleben - einen strukturellen Bruch, der unter enormem Druck stattfindet.
Robert Habeck laut Financial Times
Das Problem wird laut Bericht noch dadurch verschärft, dass die steigenden Energiekosten in Deutschland auf steigende Zinsen in den USA träfen und auf ein nachlassendes Wachstum in China, einem der größten deutschen Exportmärkte.
Der Gasverbrauch der Industrie in Deutschland war im Juli 21 Prozent niedriger als im Vorjahresmonat. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) warnte Ende August allerdings vor falschen Schlüssen. "Dahinter stehen oft keine Effizienzgewinne, sondern ein dramatischer Produktionsrückgang", erklärte BDI-Präsident Siegfried Russwurm.
Den Grund sieht der BDI-Präsident in den hohen Gas- und Strompreisen.
Die Strompreise für 2023 sind aktuell auf mehr als 700 Euro pro Megawattstunde gestiegen – mehr als das 15-Fache des Preisniveaus der vergangenen Jahre. Der Gaspreis hat um 1000 Prozent auf mehr als 300 Euro pro Megawattstunde zugelegt. Die Lage ist für viele Unternehmen schon jetzt oder in Kürze toxisch, nicht nur wegen des Gasmangels, sondern vor allem wegen der aberwitzigen Preissteigerungen.
Siegfried Russwurm
Als Beispiel sei an dieser Stelle Europas größter Stahlkonzern ArcelorMittal genannt. Dieser kündigte jetzt an, an den Standorten Bremen und Hamburg jeweils einen Hochofen stilllegen zu wollen.
Stahlproduzenten legen erste Anlagen still
Zu den "exorbitant gestiegenen" Energiepreisen gesellten sich eine schwache Marktnachfrage, ein negativer Wirtschaftsausblick sowie anhaltend hohe CO₂-Kosten in der Stahlproduktion, heißt es in einer Mitteilung. Dadurch verlören "die EU-Handelsschutzmaßnahmen an Wirkung".
In der Hamburger Direktreduktionsanlage, wo das Vorprodukt Eisenschwamm entsteht, ist der Gasverbrauch bereits signifikant reduziert worden, erklärte Werkschef Uwe Braun. Das gelang dadurch, dass der Betrieb der Anlage um rund 80 Prozent zurückgefahren wurde und Eisenschwamm aus Amerika zugekauft werde. Um weiter produzieren zu können, so Braun, werde nun Eisenschwamm "mit höherem CO₂-Fußabdruck" vollständig importiert.
Das Werk des Konzerns im ostdeutschen Eisenhüttenstadt könnte auch bald betroffen sein. Auch diese Anlage kann unter den aktuellen Bedingungen kaum wirtschaftlich betrieben werden, hieß es am Wochenende in der Märkischen Oderzeitung (MOZ, 3./4. September 2022). Für August und September hat man deshalb schon Kurzarbeit angemeldet. Zwar sei Anfang September niemand in Kurzarbeit gewesen, aber laut Geschäftsführung sei es ungewiss, ob man den gesamten Monat durchhalten werde.
Auch im brandenburgischen Fürstenwalde kennt man das Problem. Dort besteht eine Gießerei mit rund 250 Beschäftigten und auch dieses Unternehmen kämpft mit den gestiegenen Energiepreisen. Die Geschäftsführung verdeutlichte die Situation kürzlich gegenüber der MOZ: "Entweder unsere Kunden sind bereit, den doppelten Preis zu zahlen oder wir müssen unsere Öfen abschalten". Man habe zwar ein enges Verhältnis zu vielen Kunden, doch die würden auch eines Tages an den Punkt kommen, an dem sie die Preissteigerungen nicht mehr mitmachen können.
Enttäuschung auch bei kleinen und mittleren Unternehmen
Das waren Beispiele von größeren Unternehmen, aber auch viele kleine und mittelständische leiden unter den hohen Energiepreisen. Das ergab eine Blitzumfrage des Deutsche Mittelstands-Bundes (DMB). Knapp jedes dritte Unternehmen rechnet demnach mit einer schlechten Geschäftssituation in den kommenden sechs Monaten. Zehn Prozent gab an, die Energiekosten seien "existenzbedrohend".
Das Vertrauen in die Bundesregierung und ihre Fähigkeiten, die Krise zu meistern, schwinden. Viele kleine und mittelständische Unternehmen fühlten sich von der Politik alleingelassen, sagte Marc S. Tenbieg, Geschäftsführender Vorstand des DMB.