England: 600 Hochhäuser potenziell so gefährlich wie Grenfell Tower
Neuer Wärmeverbundsystemfassadenbrand in Schleswig-Holstein
Neun Tage nach dem verheerenden Fassadenfeuer am Londoner Grenfell Tower gibt die Polizei die Zahl der Todesopfer mit mindestens 79 an. Unter den zehn Opfern, die noch in Krankenhäusern behandelt werden, befinden sich fünf weiterhin in einem kritischen Zustand. Der größte britische Brand seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschah auch deshalb, weil man das Hochhaus mit Aluminium-Verbundplatten gedämmt hatte, die den brennbaren Kunststoff Polyethylen enthielten. Nachdem das bekannt wurde, fragte die Regierung bei den englischen Kommunen an, welche Hochhausfassaden mit dem gleichen Material verkleidet wurden. Das Ergebnis dieser Untersuchung stellte sie gestern im Unterhaus vor.
Danach liegt die Zahl der Hochhäuser, bei denen ein Fassadenbrand potenziell ähnlich katastrophal verlaufen könnte, bei etwa 600. Für Schottland, Wales und Nordirland gibt es noch keine Zahlen. In den Gemeinden, die potenziell brennbare Hochhäuser meldeten, soll das Department for Communities and Local Government weitere Tests durchführen. Bislang bestätigten drei dieser Tests eine besonders große Brandgefahr. In solchen Fällen müssen Mays Worten nach sowohl die Eigentümer als auch die Mieter der Wohnungen in den betroffenen Gebäuden informiert werden - das sei eine "Angelegenheit von absoluter Dringlichkeit".
Austausch und Klage
Die Bewohner von Gebäuden, die sich als zu unsicher herausstellen, will May anderswo unterbringen. An die Opfer der Grenfell-Tower-Katastrophe habe man bereits über 700.000 Pfund bezahlt, die die Behörden nicht zurückfordern würden. Für die Mieter der insgesamt 151 zerstörten Wohnungen im Hochhaus und in dessen unmittelbarer Umgebung überprüfe man gerade 164 Ersatzunterkünfte, darunter einen ganzen Häuserblock mit 68 Wohneinheiten und einem Schwimmbad.
Im Londoner Stadtteil Camden, in dem das Chalcots-Gebäude einen Brandsicherheitstest des Department for Communities and Local Government nicht bestand, will das Ratsmitglied Georgia Gould die gefährliche Dämmung nicht nur entfernen lassen, sondern auch den Bauunternehmer verklagen, der sie anbrachte. Sie entsprechen ihren Angaben nach nicht den vereinbarten Standards.
In Tottenham, einem anderen Stadtteil, hat man die Bewohner des 22-stöckigen Rivers-Apartments-Gebäudes per E-Mail darüber informiert, dass sie in einem Haus leben, dessen Reynobond-PE-Verkleidung der des Grenfell Tower entspricht. Dieses erst vor zwei Jahren errichtete Gebäude verfügt jedoch - anders als der 1974 gebaute Grenfell Tower - über eine Sprinkleranlage und andere Sicherheitssysteme, die es im Unglückshochhaus nicht gab. Der Newlon Housing Trust, dem ein Teil der Wohnung gehört, meinte zur BBC, es stehe noch nicht fest, ob man die Verkleidung durch eine weniger leicht brennbare ersetzen müsse oder nicht.
Fassade fängt beim Abbrennen von Unkraut Feuer
In Deutschland dürfen in Gebäuden mit weniger als 22 Metern Höhe faktisch brennbare Fassadendämmungen verbaut werden, die hierzulande meist aus geschäumtem Polystyrol sind (vgl. Feuerfalle Styropor). Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann kündigte nach der Londoner Katastrophe an, er wolle nun "überprüfen" lassen, "ob die aus energetischen Gründen geforderte Außendämmung eine zusätzliche Brandgefahr auslöst" (vgl. Fassadenbrände: Bayerischer Innenminister will Dämmung untersuchen lassen)
Brandschutzexperten wie der Berliner Landesbranddirektor Wilfried Gräfling bemängeln die deutsche Dämmungsrechtslage allerdings schon lange und weisen auf Brände wie die im Duisburger Stadtteil Meiderich hin, bei dem im letzten Jahr eine 33-jährige Mutter und ihre beiden acht und 14 Jahre alten Kinder starben, weil sich das Feuer an der Fassade des viergeschossigen Hauses dem dortigen Feuerwehrchef Oliver Tittmann zufolge "wie an einer Zündschnur" ausbreitete.
Am Mittwoch kam es im schleswig-holsteinischen Kaltenkirchen erneut zu einem solchen Fassadenbrand, bei dem jedoch weder Menschen ums Leben kamen noch verletzt wurden, obwohl der betroffene Bürokomplex komplett abbrannte. Auch hier bestand die Fassade nach Angaben der Feuerwehr aus einem "Wärmeverbundsystem" und war so leicht brennbar, dass abgebranntes Unkraut ausreichte.
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