Enhancement mit Statistik
Die Debatte um die Quantified Self-Bewegung und die Selbststeuerung
Die Selbsterkenntnis per Datenanalyse hat Konjunktur. Wo früher Waage und Fieberthermometer ausreichen mussten, um den eigenen Gesundheitszustand zu messen, stehen heute eine Vielzahl von Gadgets bereit. Bio-Sensoren und Apps können Körperfunktionen in jeder Lebenslage aufzeichnen, aus den gewonnenen Daten werden Handlungsanweisungen für optimalen Schlaf, gesündere Ernährung, bessere Fitness und höhere Intelligenz gezogen. Das Quantified Self ist geboren, die lose gekoppelten Mitglieder dieser Bewegungen, die sogenannten Self-Tracker, wollen sich optimieren. Die Fitness- und Gesundheitsbranche sieht neue Geschäftsfelder wachsen, aber es wird auch Kritik laut.
Auf dem Markt sind bereits Waagen, die das Gewicht und den BMI per WLAN an den PC oder das Smartphone senden. Einige erlauben das Teilen der Daten auf Facebook und Twitter. Einen Schritt weiter geht Beeminder. Das System zieht Geld vom Konto ein, wenn man sein Trainingspensum nicht erfüllt. Und unter www.trackyourhappiness.org behauptet, eine App gar feststellen zu können, welche Tätigkeiten den Anwender glücklich machen. Viele Produzenten sammeln die anonymisierten Informationsströme, um Datenbanken mit Nutzerverhalten aufzubauen. So pflegt beispielsweise ein Hersteller von Schlafsensoren, die Firma Zeo, mittlerweile eine der weltweit größten Datenbanken über das menschliche Schlafverhalten.
Ein Hobby für Nerds, könnte man meinen. Und tatsächlich sieht man auf den Treffen zumeist junge Männer die Tabellen und Ansätze diskutieren. Florian Schumacher vom Quantified Self Netzwerk Deutschland weist gleichwohl darauf hin, dass bereits heute viele Menschen digitale Produkte, welche auf der Selbst Quantifizierung basieren, verwenden. Ob Schlafphasenwecker, Menstruationskalender oder GPS-Tracking für Sportler - eine Vielzahl von Smartphone Apps basiere auf der Messung und Analyse von persönlichen Daten. "Zugleich wird auch von medizinischer Seite immer häufiger die regelmäßige Kontrolle von Werten wie Gewicht, Blutdruck oder Blutzucker empfohlen und Ansätze aus der Telemedizin werden zunehmend populärer." Durch diese Trends sei davon auszugehen, dass sich Sportler und Patienten zukünftig häufiger quantitativ beobachten, um Ihre Leistungen oder ihre Gesundheit zu verbessern.
In Deutschland ist die Szene klein und diversifiziert. Die deutsche Quantified-Self-Facebook-Gruppe hat zur Zeit 146 Mitglieder. Nicht alle sind eingefleischte Body-Hacker, vielen geht es eher darum, Trainingseffekte zu messen und ihre Gesundheit auf einem guten Stand zu halten.
Die schillerndsten Blüten sprießen wieder einmal in den USA. Dort erlauben einige Self-Tracker jedermann ihre Einsicht in Hirnstrom- und Stuhlgangwerte. Der Tracker Chris Volinksy stellt beispielsweise seinen kompletten und immer aktuellen Gesundheits-Datensatz zum Download zur Verfügung. Dies umfasst zur Zeit Schrittanzahl, Gewicht und Produktivität, aber beispielsweise noch keine Blutwerte. Andere, wie Dave Asprey, haben das Quantified Self zu einer die gesamte Existenz umfassenden "Biohacking" ausgebaut und bieten verschiedene Produkte an, die als cognitive enhancer wirken sollen.
Corpus Delicti
Dieser technische Enthusiasmus ruft Kritiker auf den Plan. Diese reiben sich nicht nur am gefährdeten Datenschutz, sondern befürchten einerseits einen Kampf gegen den eigenen Körper, der sich der Illusion hingibt, über eine manische Selbstkontrolle Herr über das eigenen Schicksal werden zu können. Andererseits sieht man in der Trackern die Spitze der gesellschaftlichen Tendenz, die physische Vollkommenheit als das höchste Gut im Leben zu sehen.
Jüngst hat die Autorin Juli Zeh mit einem grimmigen Artikel zu Wort gemeldet. Zeh hatte schon in ihrem Roman "Corpus Delicti" eine Gesundheitsdiktatur beschrieben, in der hyperhygienische Kontrollen und Regulationen herrschen. In der Selbst-Quantifzierung sieht sie nun einer Art Magersucht für Männer, in den Trackern die Versuchskaninchen für das aufkeimende "Konzept des Gesundheitsuntertanen". Ihr Argument: "Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann gibt es auch messbare Abweichungen, an die sich Belohnung und Strafe knüpfen lassen."
Florian Schumacher hält solche Befürchtungen für übertrieben. Einen allgemein gültigen, optimalen Lebensstil gäbe es ohnehin nicht, da sich jeder Mensch in seinem Stoffwechsel, seinen gesundheitlichen Voraussetzungen und seinen persönlichen Bedürfnissen unterscheide. "Lösungen nach dem Prinzip von Quantified Self zielen darauf ab, besser auf den Einzelnen mit seinen individuellen Besonderheiten einzugehen. Die Auseinandersetzung mit sich selbst führt zu Wissen, welches man für einen selbstverantwortlichen Lebensstil einsetzen kann." Darin sieht er primär eine Chance zum mündigen Umgang mit der eigenen Gesundheit.
Das Selbst und seine Steigerung
Die Optimierungsbemühungen der Quantified Self Bewegung fallen in eine Zeit, in der das Individuum ohnehin als durch und durch messbare und jederzeit zu verbessernde Gestalt interpretiert wird. Die Gesundheits- und Pharma-Industrie steht zur Seite, wenn es darum geht, an beliebigen Stellschrauben zu drehen: Nahrungsergänzungsmittel für die tägliche Ernährung, Koffein für das Büro, Stimulanzien für den Abend und vor dem Halbmarathon ein paar Schmerzmittel. Eine Zeit lang schien es, als das mit den sogenannten "cognitive enhancern" pharmakologische Mittel zur Verfügung stehen, die Aufmerksamkeit, Aufnahmekapazität oder gar Intelligenz steigern. Die nähere wissenschaftliche Analyse relativierte dies stark, mehr als Wachbleiben ist kaum drin, Steigerungen einiger kognitiven Funktionen gehen meist mit Verringerung anderer Funktionen einher.
Um nicht nur die rationalen Funktionen, sondern die Gesamtstimmung auf hohem Niveau zu halten, können Antidepressiva dienen. Die Grenze zwischen Therapie und Enhancement ist hier nicht immer so scharf, wie dies gerne von der Ärzteschaft behauptet wird. Ob nun aber beispielsweise in Deutschland eine Überversorgung herrscht, wird diskutiert. Der aktuelle Arzneimittelreport behauptet dies, die Fachschaft widerspricht. Das Beispiel der medikamentenaffinen USA ("Listening to Prozac") mag als Warnung dienen, lässt sich aber nicht auf Europa übertragen. Zur Zeit wird die Wirkung des "Kuschelhormons" Oxytocin erforscht. Die Therapeuten hoffen auf soziale Bindungsaktivierung. Allerdings zeigt sich, dass bei Menschen mit einer bestimmten Ausprägung der Oxytocin-Rezeptoren das Mittel seine Wirkung kaum oder gar nicht entfaltet.
Ob Zeiten des "emotionalen enhancement" vor der Tür stehen ist offen. Felicitas Krämer von der Technischen Universität Eindhoven untersucht deren Ethik und warnt vor Eingriffen in die Psyche von Gesunden. "Das emotionale Enhancement scheint mir noch problembehafteter und komplexer als das kognitive, denn es geht nicht einfach um Steigerung." Die früher diskutierten Fragen der Natürlichkeit der Gefühle, die beim emotionalen Enhancement evoziert werden, hält sie für nachrangig. "Ich denke, wir können biokonservative Argumentationen nach dem Motto 'etwas ist deshalb problematisch, weil es künstlichen Ursprungs ist' mittlerweile ganz beiseite legen. Sie sind widerlegbar. Stattdessen sollte der Diskurs sich hauptsächlich mit der Lebensqualität der Konsumenten und den möglichen negativen Folgen des Konsums befassen."
Ob Hirndoping, Antidepressiva oder Entaktogene: Hinweise auf gutes Gelingen und inneren Frieden sind möglich, das Vertrauen auf die andauernde Wirkung wird zumeist enttäuscht. Es besteht immer die Chance, dass unser Körpersystem allzu schnelle Veränderungen an sich als Störung empfindet. Wer sich aufgrund innerer Querelen ändern will, darf Zeit einplanen. Eine Binsenweisheit vielleicht, genauso wie die Feststellung, dass genau diese Zeit heutzutage Mangelware ist. Und, nur nebenbei bemerkt, treffen sich an dieser Stelle diejenigen, die Heilung auf Knopfdruck durch Pharmakotherapie und diejenigen, die spirituelle Erweckung durch Urwaldaufenthalte mit Ayahuasca-Sitzungen erwarten.
So sehr man den Optimierungswahn auch kritisieren mag: Quantified Self könnte durchaus zur zivilen Selbstermächtigung und der damit möglichen Autonomisierung von den Institutionen des Gesundheitssystems und Fitnessbranche beitragen. Folgt man allerdings Autoren wie Juli Zeh ist körperlich-geistige Kultivierung ohne Unterordnung unter das kapitalistische Leistungsdiktat überhaupt nicht möglich. Auch die junge Bewegung des Quantified Self kommt nicht um die Frage herum, ob sie einer weiteren Form leistungsgesellschaftlicher Anpassungsvorgänge unterliegen und zur Erosion gesellschaftlicher Solidarität beitragen.
Es ist nie einfach zu sehen, ob man etwas tut, weil man es von sich erwartet oder es von einem erwartet wird. So tief braucht man zudem nicht blicken, um zu erkennen, dass diese Technologie mehr ist als nur ein Mittel, genaueres über sich selbst zu erfahren. Denn an das Funktionsverständnis ist der Optimierungswille eng gekoppelt. Und ein hypertechnischer Ansatz, der zentrale Lebensbereiche in den Verfügungsbereich der Technik stellt, ist für Selbstverdinglichung durchaus sensibel.