Enthemmte Russophobie führt uns auf einen gefährlichen Weg
Seite 2: Wir sind Patrioten, unsere Gegner sind bösartige Nationalisten
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Glaubt die "Literaturkritikerin" Ogarkowa wirklich, dass Dostojewski Raskolnikovs Verbrechen guthieß und nicht darstellte, wie er dafür gerecht bestraft wurde? Oder verlässt sie sich darauf, dass ihr westliches Publikum bereit ist, russische Autoren zu hassen, ohne sie gelesen zu haben?
Pomerantsev schließt mit einer fast unglaublichen Passage daran an:
Ogarkova und Jermolenko weisen auf den Unterschied zwischen Hitler und Stalin hin: Während die Nazis einige Regeln hatten, wen sie bestraften (Nicht-Arier, Kommunisten), konnte in Stalins Terror jeder in jedem Moment zum Opfer werden. Willkürliche Gewalt zieht sich durch die russische Geschichte.
Das ist die gleiche alte widerliche Heuchelei. Sie sind Nationalisten, wir sind Patrioten. Ihre Bombardierung von Zivilisten spiegelt einen blinden Zerstörungsdrang wider, der in ihrem nationalen Charakter verwurzelt ist, unsere ist entweder rein zufällig oder ein unglücklicher Teil eines gerechten Kampfes.
Ihre Folterung von mutmaßlichen Feinden ist auf ihre angeborene kollektive Grausamkeit zurückzuführen. Die unsrige spiegelt "nicht das, was wir sind".
Es ist ein klassisches Beispiel für das, was Psychologen den "fundamentalen Zuordnungsfehler" nennen – die Tendenz, unsere eigenen Übertretungen als das Produkt schwieriger Umstände zu rationalisieren, während wir die Sünden anderer als das Ergebnis ihrer bösartigen Natur erklären.
Indem sie die russischen Gräueltaten in der Ukraine auf ewig währende, quasi rassische Aspekte des russischen Nationalcharakters zurückführen, versuchen solche Autoren, Russland als einzigartig verrückt und böse darzustellen, während die von Russland im Ukraine-Krieg begangenen Verbrechen in Wirklichkeit auch von mehreren westlichen Staaten in modernen Kriegen begangen wurden, darunter die Vereinigten Staaten.
Einige waren in der Tat völlig grundlos. Andere sind, wie General Sherman uns erinnerte, dem Krieg selbst inhärent. Pomerantsev und seinesgleichen müssen keine professionellen Historiker sein, um das zu wissen. Sie könnten sich einfach den Film "Die Schlacht von Algier" oder gute Filme über den Vietnamkrieg ansehen.
Diejenigen, die solche Grausamkeiten auf die Besonderheiten der traditionellen amerikanischen und europäischen Kultur zurückführten und forderten, dass die gesamte Kultur dieser Nationen deswegen auf den Müll gehört, folgte die Mehrheitsmeinung in diesen Ländern zu Recht nicht und wies den konstruierten Zusammenhang zurück.
Würde irgendjemand mit einem Funken Anstand oder gesundem Menschenverstand vorschlagen, dass wir Herman Melville und Nathaniel Hawthorne nicht lesen sollten, weil das US-Militär Zivilisten in Vietnam bombardiert und illegal in den Irak einmarschiert ist?
Nebenbei bemerkt: Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges produzierte Hollywood-Filme wie "Krieg und Frieden" und "Dr. Schiwago", und das sowjetische Kino brachte hervorragende Versionen von "Hamlet" und "König Lear" hervor.
Eruptionen wie die von Pomerantsev im Guardian können auf eine blinde, wenn auch verständliche Wut über die russische Invasion und die dadurch verursachte Zerstörung zurückgeführt werden. Sie haben jedoch auch sehr praktische und katastrophale Folgen.
Sie entmutigen nicht nur die Suche nach einem Kompromissfrieden heute, sondern, indem sie Russland als dauerhaft böse darstellen, suggerieren auch, dass jede zukünftige friedliche Koexistenz mit einem russischen Staat moralisch falsch ist und daher dauerhaft unmöglich sein sollte.
In seinem großen Werk "Der Verrat der Intellektuellen" (La Trahison des Clercs), das Julien Benda nach dem Ersten Weltkrieg verfasste, prangerte er die Bereitschaft zu vieler liberaler Intellektueller an, sich – sei es aus Emotion oder Opportunismus – dem politischen und vor allem dem nationalen Hass hinzugeben.
Er warnte immer wieder, präzise prognostizierend, dass die Förderung des Hasses in den kommenden Jahren zu noch größeren Katastrophen führen könnte. Er sagte voraus, dass das 20. Jahrhundert "zu Recht als das Jahrhundert der intellektuellen Organisation des politischen Hasses bezeichnet werden wird".
Wir sollten aufpassen, dass unsere Nachkommen, falls es welche gibt, das nicht von diesem Jahrhundert behaupten.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).