Entspannung Jetzt!
Wir brauchen eine breite gesellschaftliche und parteiübergreifende Debatte über eine neue Entspannungspolitik
Eine Welt ohne Krieg
Seit dem 8. Mai 1945 Jahren können wir diesen Tag der Befreiung Europas vom Faschismus feiern. "Um künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren", verabschiedeten am 26. Juni 1945 in San Francisco Vertreter von fünfzig Staaten die "Charta der Vereinten Nationen". Damit wurde erstmals im Völkerrecht der Krieg als Mittel der Politik verboten und die friedliche Schlichtung aller Streitigkeiten zur Pflicht gemacht. Am 1. Dezember 1948 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen die UNO-Menschenrechtskonvention. Damit setzten die Vereinten Nationen die völkerrechtlichen Grundlagen für eine Zukunft ohne Krieg und Verfolgung.
Heute, dreißig Jahre nachdem die Entspannungspolitik erfolgreich zum Fall der Berliner Mauer und zum Ende des Kalten Krieges geführt hatte, stehen wir am Anfang eines neuen Kalten Krieges, der uns an den Rand eines großen Konflikts führen kann: Aus Anlass der Auseinandersetzung über das Atomwaffenprogramm Nordkoreas wiederholte der ehemalige US-Verteidigungsminister William Perry im Informationsdienst The Hill seine Warnung:
"Die Atomkriegsgefahr ist heute größer als je zuvor! […] Heute, mit der andauernden Feindseligkeit zwischen den USA und Russland, schaffen wir erneut Voraussetzungen, die zu einem Atomkrieg auf Grund von Fehleinschätzungen führen können. […] Eine beunruhigende Rückkehr zu den Atomkriegsgefahren des Kalten Krieges zusätzlich zu den neuen Gefahren des nuklearen Terrorismus und regionaler Atomkriege führt mich zu dem Schluss, dass die Gefahren einer Atomkatastrophe heute größer sind als während des Kalten Krieges. Eines ist ganz klar: Unsere derzeitige Politik ist völlig ungeeignet zum Umgang mit diesen existentiellen Gefahren."
Erinnern wir uns: Nach dem Zweiten Weltkrieg trug in Westeuropa die Zusammenarbeit ehemaliger "Erzfeinde" zu Frieden und Wohlstand bei. Aber Jahrzehnte des friedlichen Wiederaufbaus bis 1989 begleitet vom Kalten Krieg, der Deutschland und Europa spaltete und außerhalb Europas begleitet war von zahlreichen Kriegen - wie in Korea und Vietnam - und von einem beispiellosen, konventionellen wie atomaren, Wettrüsten.
Der Konflikt eskalierte durch die Kubakrise bis an den Rand des Atomkrieges, der anschließende, von John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow ausgehandelte Kompromiss über einen beiderseitigen Abzug von Mittelstreckenraketen beendete die Kuba-Krise und wurde - trotz der Ermordung Kennedys und der Entmachtung Chruschtschows - zum Grundmuster zahlreicher Verträge zwischen den USA und der UdSSR über Rüstungskontrolle und Krisenmanagement.
Die von Willy Brandt und Egon Bahr entwickelte Entspannungspolitik schaffte seit 1969 durch Ostverträge und KSZE-Schlussakte Vertrauen und Voraussetzungen für das Ende des Kalten Krieges in Europa. 1971, lange bevor der Erfolg der Entspannungspolitik absehbar war, erhielt Brandt den Friedensnobelpreis. Er erläuterte bei der Preisübergabe in Oslo am 11. Dezember 1971 seine "Realpolitik für den Frieden" unter anderem mit dem Satz: "Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche."
Große Hoffnungen und neue Rückschläge
Knapp zwanzig Jahre später, 1989/1990, vollzogen sich drei friedliche Revolutionen, die völlig neue Voraussetzungen für eine gesamteuropäische Friedensordnung schufen: Deutschland wurde geeint und erhielt seine volle Souveränität zurück. Europa wurde geeint. Der Kalte Krieg war zu Ende. Der Warschauer Pakt löste sich fast lautlos auf. 500.000 sowjetische Truppen kehrten aus Mitteleuropa nach Russland zurück. Zigtausende Panzer und Tausende von Atomwaffen wurden aus Europa entfernt und vertraglich vernichtet. Das bi-polare Weltsystem und die weltweite Auseinandersetzung zweier antagonistischer Gesellschaftssysteme waren zum Ende gekommen.
Das alles hatte sich friedlich vollzogen. Im November 1990 unterschrieben alle 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE - Staaten in Paris die "Charta für ein neues Europa". Erklärtes gemeinsames Ziel war eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung, die weit darüber hinaus von Vancouver bis Wladiwostok reichen sollte. 1995 wurde der Atomwaffensperrvertrag (NPT) unbefristet verlängert und von fast allen Staaten der Erde ratifiziert nachdem sich die Atommächte verpflichtet hatten, das ausgehandelte vollständige Atomtestverbot (CTBT) zu ratifizieren und schrittweise sämtliche Atomwaffen abzurüsten.
Aber kurz danach zeichnete sich bereits eine Abkehr von den Prinzipien der Entspannungspolitik ab, die Europa seit 1969 geprägt und verändert hatten. Die Welt wurde wiederholt von Krisen, Terroranschlägen und Kriegen erschüttert. Die Atommächte erfüllen ihre 1995 erklärten Abrüstungsverpflichtungen zur Abschaffung der Atomwaffen nicht. Wichtige Abrüstungsverträge wurden gekündigt oder bis heute nicht ratifiziert.
US-Präsident Barack Obama gelang 2011 zwar die Ratifizierung eines neuen START-Vertrags zur Begrenzung der strategischen Atomwaffen, aber nur um den Preis eines hunderte Milliarden teuren Zehnjahresprogramm zur Modernisierung der US-Atomwaffen und Ausbau der Raketenabwehrsysteme. Heute betreiben beide Supermächte erneut eine umfassende Modernisierung ihrer Atomwaffen. Rüstungsexporte und Wettrüsten blühen wie in den Zeiten des Kalten Krieges, auch in Europa.
Internationale Krisenpolitik wird immer mehr durch Unilateralismus, Ausgrenzung, Konfrontation und Stellvertreterkriege geprägt. "Populismus" und Nationalismus vergiften das internationale Klima und untergraben die Möglichkeiten der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und anderer internationaler Organisationen zur Lösung von Konflikten. Wettrüsten und riskante Militärmanöver auf beiden Seiten der russischen Grenzen steigern auch in Europa die Gefahr der militärischen Konfrontation "aus Versehen". Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen und Rüstungskontrolle dringender denn je!
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Neustart der Entspannungspolitik
Gerade heute, in einer Welt, die aus den Fugen gerät, inmitten all der Konflikte, muss für einen Neustart der Rüstungskontrolle als bewährtes Mittel für Transparenz, Risikovermeidung und Vertrauensbildung geworben werden.
Wir brauchen eine breite gesellschaftliche und parteiübergreifende Debatte über Entspannungspolitik, um die Konfrontation in Europa zu beenden, um mit Nutzen für die ganze Welt eine Zone gesamteuropäischer "gemeinsamer Sicherheit" zu verwirklichen. Aus meiner Sicht wären wichtige Forderungen:
- Ein Drängen auf sofortige Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen (wie sie alle schon einmal vereinbart waren), über deutliche Senkung der Schwellenwerte für die Ankündigung von Manövern und den Austausch von Manöverbeobachtern sowie eine Vereinbarung von Sofortmaßnahmen zur Vermeidung unbeabsichtigter Zusammenstöße zu Luft oder zu Wasser.
- Initiativen zur Wiederaufnahme von Abrüstungsverhandlungen über Nuklearwaffen und konventionelle Streitkräfte.
- Das Einbringen der Forderung nach einem Stopp der Modernisierung von Atomwaffen in der im Mai beginnenden "Vorbereitungskommission" für die Review Conference zum NPT 2020.
- Aktive Kooperationen auf zivilgesellschaftlicher Ebene mit Russland und zwischen Russland und seinen Nachbarstaaten: Städte-Partnerschaften; Jugend- und Studentenaustausch; Wissenschaftsaustausch; Kulturaustausch und vieles mehr.
- Aktive Nutzung des NATO-Russland-Rates, nicht nur auf Botschafterebene, sondern auch auf Ebene von Außen- und Verteidigungsministern, sowie von Spitzenmilitärs.
- Die Stärkung und Ausweitung der Beobachtermissionen zur Verwirklichung der Minsker Vereinbarung.
- Briefaktionen an die Regierungen in Kiew, Moskau und die Separatisten mit Forderungen zur Umsetzung der Minsker Vereinbarung.
Bei diesem Text handelt es sich um einen mit Genehmigung des Autors bereitgestellten Auszug aus dem Buch "Frieden! Jetzt! Überall!" (hrsg. von Peter Brandt, Reiner Braun, Michael Müller, Westend Verlag, 2.7.2019) sowie aus seiner Erklärung zum 8. Mai ("Neue Entspannungspolitik JETZT!").
Horst Teltschik war am 25.6. Gast im Telepolis Salon "Vom Kalten Krieg zur entfesselten Rüstungsspirale". Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet: "Völker vergessen die Geschichte nicht".
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