Erdogan, Gülen und der Putsch

Seite 2: Gülen eine "globale Bedrohung"?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Haltung der EU und der US-Behörden tangiert Erdogan nicht. Im Gegenteil: Bei einem Staatsbesuch in Tansania zum Wochenanfang bezeichnete er die Gülen-Bewegung als "globale Bedrohung", deren offizielle Ziele nur vorgeschoben seien.

Der deutsche Verfassungsschutz hat dazu eine andere Haltung und sieht keinen Anlass, die Bewegung zu beobachten. Auch der Erfurter Theologe Prof. Christoph Bultmann sieht die Vorwürfe Gülen gegenüber als unbegründet an. Gülen stehe "politisch für die Demokratie und den Schutz der Grundrechte und insofern für einen modernen Islam", sagt der Wissenschaftler, der in einem Buch zum Thema dem Nachrichtenmagazin Spiegel in dem Zusammenhang gar eine Zitatfälschung vorwarf, mit der ein verzerrtes oder gar falsches Bild von Gülen geliefert worden sei. Gülen predige "ein friedliches Zusammenleben der Religionen als unverzichtbare Bedingung für religiöse Glaubwürdigkeit", sagt Bultmann weiter.

Fakt ist, dass die Gülen-Bewegung, oder zumindest Teile von ihr, die AKP und Erdogan eine Zeitlang tatkräftig unterstützt haben, wie Günter Seufert in einer Analyse für die Stiftung Wissenschaft und Politik darlegt: Demnach war sie sehr aktiv in die Ergenekon-Prozesse eingebunden, mit denen eine Verschwörung des Militärs gegen die AKP-Regierung zerschlagen wurde, die aber später in eine Hexenjagd auf Regierungsgegner unter Nutzung fingierter Beweise ausartete. Auch Erdogans Verfassungsreferendum im Jahr 2010 unterstützte Gülen in einem öffentlichen Aufruf. Die Gülen-Bewegung wirkte aktiv an der Entmachtung des türkischen Militärs mit, da sie ihm, wie auch andere religiöse Bewegungen, ein Dorn im Auge war.

Ercan Karakoyun, Sprecher der Hizmet (wie sich die Gülen-Anhänger selbst nennen) in Deutschland, hat Anfang 2017 unter dem Titel "Die Gülen-Bewegung. Was sie ist, was sie will" eine Selbstdarstellung in Buchform vorgelegt. Darin geht er recht offen auf diese Kritikpunkte ein: "Man muss sich selbstkritisch fragen, wie viel Mitschuld Hizmet am Aufstieg des Autokraten Erdogan trägt. (…) Als die AKP 2002 an die Macht kam und aus Mangel an eigenen loyalen und qualifizierten Leuten händeringend nach Personal für Staat und Verwaltung suchte, hatten die Menschen aus der Hizmet-Bewegung gern die offenen Posten und Ämter übernommen."

Darin sieht Karakoyun einen der Gründe für die mangelnde Solidarität, jetzt, da die Hizmet-Anhänger nicht nur in der Türkei, sondern durch Imame der DITIB auch in Deutschland verfolgt und bedroht werden. Die Zusammenarbeit mit der AKP bezeichnet Karakoyun aus heutiger Sicht als "Tiefpunkt".

Wichtig dabei ist: Wenn Erdogan von einer "Unterwanderung" des türkischen Staates durch Gülen-Anhänger spricht, dann ignoriert er wohlweislich, dass es die AKP selbst war, die diese Leute in die entsprechenden Posten gehoben hat. Zugleich lässt sich nachvollziehen, dass der Bruch zur AKP mit deren politischer Radikalisierung einherging. Bereits 2013 hatte Erdogan begonnen, Gülen-Anhänger aus dem Staatsdienst zu entfernen. Das macht die heutige Stilisierung zur Terrororganisation umso unglaubwürdiger.

In den Schriften Gülens, die zum Teil auch auf Deutsch vorliegen, gibt es durchaus viel Kritikwürdiges. Die Bewegung ist konservativ-islamisch und bestreitet das auch nicht. Sie geht aber zunehmend offen mit Kritik um und ist diskussionsbereit - ganz im Gegensatz zur AKP und ihren Anhängern. Die Gülen-Schulen in Deutschland sind staatlich anerkannt und unterliegen bis hin zu den Lehrplänen denselben Regeln wie staatliche Schulen; die Dialog-Vereine bekennen sich inzwischen offen zu Gülen und unterliegen dem deutschen Vereinsrecht. Durch Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen stehen sie jedem offen, der Interesse hat.

Diese Offenheit hat seit den Vorwürfen nach dem Putschversuch deutlich zugenommen, das Bemühen, Vorbehalte der Gruppe gegenüber abzubauen, ist sichtlich gestiegen. Zweifellos gibt es Positionen der Gülen-Anhänger, mit denen man sich kritisch auseinandersetzen sollte. Anzeichen dafür, dass es sich um eine bedrohliche Terrororganisation handelt, gibt es aber, vor allen in Deutschland, nicht.

Vertrauen ins Militär nimmt ab

Welche Auswirkungen aber hat die Jagd auf Gülen-Anhänger innerhalb der Türkei? Im Zuge dieser Säuberungen wurden weit über 100.000 Menschen aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert, fast 45.000 wurden verhaftet, zahlreiche Unternehmen enteignet, ein großer Teil davon unter der Begründung der Nähe zu Gülen.

Vor allem innerhalb des Militärs wurden massive Säuberungen durchgeführt, was letztlich auch dem Ansehen der Armee in der türkischen Bevölkerung Schaden zugefügt hat. Nur noch rund 47 Prozent der Türken haben einer aktuellen Umfrage der Kadir Has Universität zufolge Vertrauen in die Streitkräfte. Im Vorjahr lag der Wert noch bei rund 65 Prozent.

Dieselbe Umfrage zeigt, wie sehr das tägliche Propagandafeuerwerk der Regierung fruchtet. Vor allem die Bildungsfeindlichkeit steigt. Nur noch 24 Prozent der Türken haben Vertrauen in die Universitäten - das ist auch vor dem Hintergrund interessant, dass die Gülen-Bewegung in dem bildungsfeindlichen Land stets Bildung und Ausbildung propagiert hat. 2016 wurden tausende Universitäts-Mitarbeiter verhaftet oder suspendiert, darunter sämtliche Rektoren, deren Nachfolger nun von Erdogan persönlich ernannt werden. Nur noch 26 Prozent vertrauen NGOs, den Medien trauen gar nur noch rund 15 Prozent der Türken, und auch politische Parteien haben mit 21 Prozent Zuspruch einen Tiefpunkt erreicht.

Die Umfrage zeichnet das Bild eines Landes, das jegliches Vertrauen in demokratische und zivilgesellschaftliche Institutionen verloren hat, während zugleich die Popularität von Staatspräsident Erdogan wächst - auf derzeit 48 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Bevölkerung der Verfassungsreform im April zustimmen wird, ist folglich höher als angenommen. Man entscheidet sich gegen demokratischen Pluralismus und für einen Alleinherrscher, der brutal abweichende Positionen unterdrückt. Kurz: Die Türkei ist auf dem besten Weg, sich in einen autokratischen Musterstaat nach Vorbild anderer Staaten im Nahen Osten zu verwandeln.

Während die türkische Armee in Syrien gegen Kurden und IS kämpft, vergeht kaum eine Woche ohne große Verhaftungswellen beim Militär. Erst vergangene Woche wurden mehrere hundert Armeeangehörige wegen vermeintlicher Gülen-Verbindungen festgenommen. Dennoch besteht die Regierung darauf, dass die Handlungsfähigkeit der Armee dadurch nicht beeinträchtigt sei, was wohl auch der Einsatz in Syrien demonstrieren soll. Ob das aber stimmt, ist fraglich. Denn zugleich ist man händeringend auf der Suche nach neuen Rekruten, von den Umstrukturierungen der Führungsebene seit dem Putschversuch gar nicht zu sprechen.