Erdogan: Todesstrafe als Gerechtigkeit
Am Jahrestag des Putschversuchs schlug der türkische Präsident martialische Töne an, seine Anhänger forderten erneut die Todesstrafe
Vor einer Woche versammelte sich die türkische Opposition zu einer Großdemonstration in Istanbul - und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu forderte die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien. "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit" war der Slogan der Menge. Ein gänzlich entgegengesetztes Bild bot sich gestern, am ersten Jahrestag des Putschversuches, als Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu seinen Anhängern sprach. Hunderttausende waren zur Bosporusbrücke gekommen, wo die AKP eine Bühne aufgebaut hatte. Vor einem Jahr hatten die Putschisten die Brücke besetzt und auf Zivilisten geschossen. Sie wurde in "Brücke des 15. Juli" umbenannt.
In seiner Rede versprach Erdogan einmal mehr Rache an den Putschisten - und meint dabei alle, die gegen ihn stehen, meint die über 50.000 Menschen in Haft: "Wir werden den Verrätern den Kopf abreißen!", rief er, und die Menge antwortete: "Wir sind Tayyips Soldaten!" und "Wir wollen die Todesstrafe!", deren Einführung Erdogan erneut in Aussicht stellte. Das ist sein Verständnis von Gerechtigkeit. Dabei inszeniert er sich als Retter der Demokratie und scheint das tatsächlich so zu verstehen: Was immer die vermeintliche Mehrheit will, ist in seinen Augen demokratisch legitimiert.
Aber in diesem Jahr gibt es keinen Schulterschluss mehr. Während noch 2016 die CHP gemeinsam mit der AKP am symbolträchtigen Taksim-Platz der Putschopfer gedacht hatte, haben die Oppositionsparteien CHP und HDP bereits angekündigt, dem Gedenken, das am Sonntag im Parlament in Ankara stattfinden soll, fernzubleiben. Sie werfen der Regierung einen "kontrollierten Putsch" vor: Die AKP habe gewusst, was passieren würde, sagte Kilicdaroglu gestern erneut, und habe es geschehen lassen. Mit der Ausrufung des jüngst erneut verlängerten Ausnahmezustandes habe sie einen "zivilen Putsch" eingeleitet. Nach dieser Lesart wäre Erdogan selbst für die Toten und Verletzten der Nacht vom 15. auf den 16. Juli verantwortlich.
Einen Tag vor dem Jahrestag hatte Erdogan in einem neuen Präsidialdekret erneut mehr als 7500 Staatsbeamte entlassen. Die Betroffenen haben keine Möglichkeit, dagegen den Rechtsweg zu beschreiten. Sie haben kaum eine Chance, einen anderen Job zu bekommen, sie dürfen das Land nicht verlassen. Ihre Existenzen sind vernichtet. So geht es inzwischen fast 140.000 Menschen.
Rund 25.000 von ihnen haben sich inzwischen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewandt, doch dieser setzt seine Praxis fort, die Anliegen abzuweisen. Schon mehrfach hatte der EGMR das damit begründet, dass die Betroffenen erst den Rechtsweg innerhalb der Türkei ausschöpfen müssten, bevor die Fälle in die Zuständigkeit des EGMR fallen. Formal mag das zutreffen. Die Tatsache, dass es keinen neutralen Rechtsweg mehr gibt in der Türkei, ignorieren die Richter einfach.
Ein besonderes "Geschenk" erhielten am gestrigen Tag fast alle, die in der Türkei ein Mobiltelefon nutzen: Eine Sprachnachricht des Präsidenten, in der er den Bürgern "zum Tag der Demokratie" gratuliert und "die Märtyrer" ehrt. Darüber berichtete unter anderen auch die Süddeutsche Zeitung, die sich zeitgleich einen üblen Fauxpas leistete: Die Zeitung publizierte in ihrer Printausgabe eine ganzseitige Propaganda-Anzeige der AKP. Türkische Oppositionelle, aber auch zahlreiche deutsche Journalisten zeigen sich in den Sozialen Medien entsetzt.