Erdogan und die Türkei-Wahl: Der kranke Mann vom Bosporus

Seite 2: Der Einfluss des Erdbebens vom Februar

Schon das verheerende Erdbeben in der Türkei am 6. Februar mit 50.000 Toten war zuvor eine Zäsur, die den laufenden Wahlkampf um die Präsidentschaft in ein "vorher" und "nachher" teilte. Erdogan wollte zunächst als "Retter der Nation" auftreten und forderte eine "Entpolitisierung" der Naturkatastrophe und ihrer Bewältigung.

Gegen zwei Journalisten, die das Vorgehen der Behörden kritisierten, wurde wegen "Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Gewalt" ermittelt; Twitter, TikTok und Instagram wurden in der Türkei wegen "Verbreitung von Desinformation" gesperrt.

Ein erheblicher Teil der türkischen Gesellschaft begann dennoch, die gesamte Politik der AKP in den letzten 20 Jahren kritisch zu hinterfragen. Vor allem die Frage, ob die Behörden alles getan haben, um eine solche Katastrophe zu verhindern, ließ sich nicht wirksam unterdrücken.

Viele Menschen in der Türkei erinnerten sich etwa an die "Bauamnestie", also eine Beseitigung von Verantwortung für illegal errichtete Gebäude gegen Zahlung einer Abgabe.

Diese war unter Erdogan achtmal durchgeführt worden, in der Regel vor Wahlen zur Steigerung der Anhängerschaft der Regierung. So gab es unter der AKP einen Bauboom, die Anzahl der zulässigen Stockwerke wurden von 20 auf 37 erhöht.

Erdogan wurde auch daran erinnert, dass er selbst 2002 drei Jahre nach einem verheerenden Erdbeben 1999 an die Macht kam, wo ebenfalls 20.000 Menschen starben.

Der Journalist Can Dündar, vor einigen Jahren ins deutsche Exil genötigt, schrieb denn auch passend: "Erdogan kam mit einem Erdbeben und wird mit einem Erdbeben wieder gehen."

Die Opposition hat nun einen Vorsprung

Waren zu Jahresbeginn die Kräfteverhältnisse zwischen Erdogan und seinem Hauptkonkurrenten bei den Wahlen Kemal Kilicdaroglu von der kemalistischen CHP etwa ausgeglichen, begann nach dem Erdbeben das Rating des amtierenden Präsidenten schnell zu fallen.

Umfrageergebnisse zeigen inzwischen einen Vorsprung von Kilicdaroglu von teilweise mehr als 14 Prozent auf Erdogan, wenn man den Türken die direkte Wahl zwischen beiden lässt.

Daneben gibt es noch zwei weitere Kandidaten, die beiden Stimmen wegnehmen könnten, auch wenn sie kaum eine Siegeschance haben: Muharrem Ince war 2018 Kandidat der Opposition, verließ die CHP aber nach einem Konflikt mit Kilicdaroglu. Seine neue Partei Rodina hat immer noch viel Unterstützer und ihm werden bis zu zehn Prozent der Wählerstimmen zugetraut.

Der vierte Präsidentschaftskandidat Sinan Organ von der sogenannten Vaterkoalition stammt vom rechten bis rechtsextremen Rand des Parteienspektrums. Er gilt aber nicht umsonst als Mann Erdogans und wird kaum über zwei Prozent erreichen.

Bei einer weiter sinkenden Zustimmung sind Erdogan bei einem weiter verschlechternden Gesundheitszustand sehr radikale Schritte zuzutrauen. Etwa eine Verschärfung der Situation an der türkisch-syrischen Grenze bis hin zu einer Einführung des Kriegsrechts, das laut der Türkischen Verfassung die einzige Grundlage wäre, eine Präsidentschaftswahl zu verschieben.

Wie viele in der Türkei denken, wird Erdogan schon noch "ein Kaninchen aus dem Hut zaubern". Ein wahrscheinliches Ergebnis der Wahl am 14. Mai 2023 ist die Notwendigkeit eines zweiten Wahlgangs, der dann am 28. Mai stattfinden würde.

In jedem Fall wird Erdogan selbst bei einer Niederlage in Runde eins bis zum Ende kämpfen und Millionen seiner Anhänger auf die Straße bringen. Wohlhabende Türken reagieren bereits darauf und kaufen Flugtickets zum Wahltermin, um nach der Abstimmung das Land verlassen zu können, falls es in der aufgehetzten Situation zu Unruhen kommt.