Erdogan und wie er die Demokratie sah

Kommentar: Über ein Missverständnis, das sich verfestigt

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Die Wahl am vergangenen Sonntag sei ein "Denkzettel für Erdogan", titelte der Tagesspiegel. Für die Zeit war es eine "Niederlage mit Symbolkraft", Spiegel-Online sieht bereits das "Ende eines Mythos". Das klingt alles, als sei der türkische Staatspräsident schwer angeschlagen, als könne die Opposition nun endlich auf einen Wandel hoffen.

Doch es gibt keinen wirklichen Grund für Jubel - auch wenn es nachvollziehbar ist, dass in vielen türkischen Städten gefeiert wird, nachdem in Istanbul, Ankara, Antalya, Adana, Diyarbakir und weiteren wichtigen Zentren die Opposition die Mehrheit holen konnte. Wer Istanbul regiert, der gewinnt auch die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, so heißt es, weil das in der Vergangenheit fast immer so war. Dass es nun erneut so kommt, ist aber in hohem Maße unwahrscheinlich.

Auch bei vielen ausländischen Beobachtern hat sich längst ein Missverständnis verfestigt: Der Glaube, dass Erdogan es mit seiner radikalen antidemokratischen und autoritären Politik, seiner Missachtung von Meinungsfreiheit und Menschenrechten, zu weit getrieben hat, und dass sich deshalb nun auch AKP-Stammwähler von ihm abwenden. Doch das ist falsch.

Zumal Erdogan gerade wieder sein Demokratieverständnis demonstriert, indem er das knappe Istanbuler Wahlergebnis anfechten lässt, während die Polizei kurzerhand das Rathaus von Bismil eingerissen hat, so dass der neue HDP-Bürgermeister seine Amtsgeschäfte nun von einem Zelt aus erledigen muss.

Es ist richtig, dass die AKP die wichtigsten Großstädte verloren hat. Richtig ist aber auch, dass sie landesweit nach wie vor die Mehrheit hält - und dass das mit Sicherheit auch ohne die erneut dokumentierten Wahlmanipulationen so wäre. Der Grund für das leichte Absacken in der Wählergunst ist einzig und allein die katastrophale wirtschaftliche Lage.

Warum wird die AKP gewählt?

Wenn man im Laufe der letzten zehn Jahre in der Türkei kopfschüttelnd gefragt hat, warum denn jemand die AKP wählt, kam fast immer dieselbe Antwort: Ein Loblied darauf, wie es Erdogan gelungen ist, das Leben der Bürger zu verbessern (zumindest jener Bürger, wohlgemerkt, die es nicht wagen, kritisch ihre Stimme zu erheben). Durch zahlreiche Reformen, Kredite und ausländische Kapitalzuflüsse kamen plötzlich auch einfache Arbeiter einigermaßen gut über die Runden, der Müll wurde pünktlich abgeholt, die Krankenversorgung verbessert. Und so weiter.

Wenn man dann weiter fragte und herausfinden wollte, wie Erdogans Wähler zu seinen Schattenseiten stehen, stieß man auf zwei Hauptströmungen: Den einen war es schlicht egal, solange sie selbst wirtschaftlich profitierten. Und die anderen waren glühende Anhänger des starken Präsidenten, die seine Verachtung für Pluralismus und Meinungsfreiheit teilten und ihm mit großem Elan jede noch so absurde Lüge über die Opposition abnahmen.

Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Geändert hat sich lediglich die wirtschaftliche Großwetterlage. Die Türkische Lira ist in eine Inflation gerauscht, Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs sind so teuer geworden, dass die Regierung kostenlose Lebensmittelabgaben organisieren musste und Händler mit hohen Preisen auf die täglich länger werdende Liste der "Terroristen" setzte. Dafür - und nur dafür! - haben Teile der AKP-Wähler ihre Stimmen an andere Parteien vergeben.

Die Opposition: CHP, Iyi-Partei und HDP

Dass die CHP solch beachtliche Erfolge feiern konnte, hat nichts mit dem Programm oder Personal der Kemalisten zu tun. In vielen Städten und Bezirken konnte sie gewinnen, weil die HDP zu ihren Gunsten auf eine Kandidatur verzichtet hat. Und das obwohl die CHP mit der rechtsnationalistischen Iyi Parti ein Bündnis eingegangen ist - einer Partei, in der eine noch radikalere Kurdenfeindlichkeit brodelt als in der CHP selbst.

Und so kommt der CHP-Spitze nun auch kein Wort des Dankes oder der Anerkennung über die Lippen. Faktisch kann es keine ernstzunehmende Opposition gegen Erdogan geben, solange die CHP nicht bereit ist, ein Bündnis mit der HDP einzugehen - der aktuell einzigen türkischen Partei, die in vollem Umfang für Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus sowie eine soziale Politik eintritt. Dass das bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2023, dem hundertjährigen Republikjubiläum, geschieht, ist allerdings nicht zu erwarten.

Die deutsche Politik schwächt die Opposition

Dass nun deutsche Politiker der türkischen Opposition gratulieren und Erdogan auffordern, das Wahlergebnis anzuerkennen, ist vor dem Hintergrund der Realpolitik nicht ernstzunehmen.

Solange Berlin die unsägliche Appeasement-Politik Erdogan gegenüber fortsetzt, solange man Deals mit ihm eingeht und ihm Waffen für seinen brutalen Krieg in Syrien zur Verfügung stellt, den er in enger Zusammenarbeit mit Radikalislamisten führt - so lange fällt man der Opposition permanent in den Rücken und schwächt sie nachhaltig. Die aktuellen Gratulationen sind leere Worte, nicht mehr.

Sicher, für Erdogan, der das Land wie ein Mafiapate regiert, ist der Verlust der Großstädte ein Ärgernis - vor allem, weil dadurch zahlreiche Großprojekte des eng mit dem Erdogan-Clan verbandelten Bausektors infrage gestellt werden könnten.

Auf der anderen Seite hat Erdogan in den letzten Jahren mehr als hundert gewählte Bürgermeister vor allem im kurdisch geprägten Südosten des Landes abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt, Politiker, die ihm im Weg standen, hat er verhaften lassen.

Einige davon sitzen schon seit Jahren hinter Gittern. Nun lautet der Tenor: in Zentren wie Istanbul oder Ankara traut er sich das nicht. Aber das bleibt abzuwarten. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Erdogan hier anders agieren sollte, wenn ihm von einem der neuen Bürgermeister echter Gegenwind droht.

Die Chancen, dass er die verlorenen Wähler bis 2023 zurückgewinnt, indem er in den nächsten vier Jahren die Wirtschaft, möglicherweise auch mit deutscher Hilfe, einigermaßen stabilisiert, stehen recht gut.

Zwar weisen aktuell alle Zeichen auf einen noch heftigeren Zusammenbruch. Aber viereinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Und selbst wenn er 2023 einen richtigen Denkzettel erhält - seine Verfassungsreform erlaubt es ihm, das Parlament einfach aufzulösen. Es wäre fahrlässig naiv zu glauben, ein mit einer derartigen Machtfülle ausgestatteter Despot ließe sich von Wahlen noch beeindrucken.

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