Erdogan will die Flüchtlingskrise 2015 noch einmal herbeiführen
Die Türkei wird zum Schleuserstaat, Griechenland zur Front der Festung Europa, die von den Migranten überrollt werden könnte
Wieder hat die Türkei einen blumigen Namen für eine blutige Militäroperation gefunden. Unter dem Titel "Operation Frühlingsschild" wurde der Krieg gegen die syrische Armee begonnen. Ziel ist wie bei den vorhergenden "Operationen" die militärische Besetzung syrischer Gebiete. Noch sieht Russland den Kriegsspielen seiner beiden Alliierten zu und versucht wahrscheinlich, eine für beide Seiten und für die eigenen Interessen zufriedenstellende Lösung zu finden. Moskau wird auch nicht wollen, dass die Türkei von Millionen weiteren Flüchtlingen, darunter zahlreichen Dschihadisten und Terroristen, überrannt wird. Derweil versucht der türkische Präsident Erdogan, den Hebel bei der EU anzusetzen und hat, wie schon lange angekündigt, Migranten aus der Türkei aufgefordert, nach Europa aufzubrechen.
Die griechische Regierung spricht zurecht davon, dass es sich um eine organisierte Aktion handelt, um das EU-Trauma von Flüchtlingsströmen zu beleben, die in die EU einwandern. Menschen werden mit Bussen an die griechische Grenze am Fluss Evros oder an die Küste gebracht und mit dem Versprechen gelockt, dass die Grenzen offen seien. Befördert wird dies durch Äußerungen türkischer Minister. So sagte gestern Kommunikationsminister Fahrettin Altun, es hätten sich über 80.000 Migranten auf den Weg an die Grenze gemacht, wo sich gestern schon Tausende befanden, die versuchten, gewaltsam über den Grenzübergang Kastanies zu gelangen und von griechischen Sicherheitskräften mit Tränengas und Wasserwerfer abgewehrt wurden. Und am Sonntagvormittag setzte Innenminister Suleyman Soylu einen Tweet ab, in dem er behauptete, 76.358 Migranten seien bereits bis 9:55 türkischer Zeit über die Grenze gekommen, was ganz offensichtlich gelogen, aber trotzdem eine Botschaft an die Migranten war.
Aber die türkische Regierung folgt dem Drehbuch, so behauptete der Innenminister am Abend, dass bis 19:40 100.577 Migranten die Türkei verlassen hätten. Die genaue Zahl soll wohl suggerieren, dass es sich um eine Zählung handelt. Aber nach Zerschlagung der Medienfreiheit in der Türkei kann die Regierung im Inland behaupten was sie will, ohne auf Kritik zu stoßen. Mit der Strategie, die Einwanderung von Migranten in die EU zu unterstützen, würde die Türkei zu einem Schleuserstaat.
Dazu kommen vermehrt Angriffe auf syrische Flüchtlinge in der Türkei. Auch das sieht nach organisierter Gewalt aus, wenn ein Mob Migranten jagt.
Noch hat die Türkei die südliche Grenze für Flüchtlinge aus Idlib nicht geöffnet, das wird sie auch nicht machen, aber trotzdem erklären, dass das Land keine weiteren Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen kann, wenn die bereits vorhandenen nicht umgesiedelt oder eben von Europa aufgenommen werden.
Die Stimmung ist aggressiv und aufgeheizt. Der Grenzübergang ist nur mit Stacheldrahtrollen geschützt. Würden hunderte oder tausende Migranten den Übergang mit Gewalt erzwingen wollen, könnten sie dies trotz des Aufgebots an Sicherheitskräften schaffen. Die Frage würde dann sein, ob die Festung Europa mit Schusswaffeneinsatz verteidigt würde. Noch werden diejenigen, die etwa über den Fluss Evros kommend nach Griechenland gekommen sind und festgenommen wurden, inhaftiert. Schon wurden einige Migranten, die illegal über die Grenze kamen, zur Abschreckung erstmals mit Haftstrafen belegt. Der griechische Nationale Sicherheitsrat hat beschlossen, wie Regierungschef Mitsotakis mitteilte, einen Monat lang keine neuen Asylanträge mehr anzunehmen.
Dazu kommt eine Propagandaschlacht. Um den Druck zu erhöhen, behauptet die türkische Regierung, es seien schon viele Migranten über die Grenze nach Griechenland gelangt, die griechische Regierung spricht von 73, die zudem nicht aus Syrien kommen würden. Man habe 10.000 am Grenzübertritt gehindert. Die türkische Regierung sagt hingegen, die griechische Regierung würde versuchen, das Problem herunterzuspielem.
Die Landgrenzen zu Griechenland und Bulgarien sind anders als 2015 durch Grenzzäune abgedichtet. An der bulgarischen Grenze scheint es noch weitgehend ruhig zu sein, es gebe hier kein Problem, sagte Regierungschef Borissow. Er hatte am Freitag mit Erdogan telefoniert und vielleicht ausgehandelt, dass die Türkei die Migranten an die griechische Grenze bringt. Das Hauptproblem sei die bulgarisch-griechische Grenze, meine Borissow, der heute Erdogan in Ankara treffen will. Das spricht für eine gewisse Küngelei.
Um die 400 Migranten sollen am Sonntag innerhalb von vier Stunden auf griechische Inseln gelangt sein. Auf Lesbos, wo schon lange Teile der Bevölkerung sich gegen die Migranten radikalisiert, haben Bewohner und Rechte im Hafen von Thermi ein Schlauchboot mit 50 Migranten gehindert, an Land zu gelangen, und sind gegen Mitglieder von NGOs aggressiv vorgegangen. Auch an anderen Stellen geschah Ähnliches, zudem wurden Straßen blockiert, um zu verhindern, dass Busse Migranten in das völlig überfüllte Lager Moria bringen. Die Protestierer verlangen, dass Moria geschlossen wird.
Für die EU, weiter gebannt durch die Coronavirus-Epidemie, ist die Situation explosiv. Alle Regierungen werden ein Revival der Flüchtlingskrise 2015 vermeiden wollen, allen voran die deutsche Regierung. Der mit der Türkei geschlossene Flüchtlingsdeal wurde aufgekündigt, Griechenland wird, wenn viele Migranten ins Land kommen, politisch explodieren und die ausländerfeindlichen, rechtsextremen und rechtsnationalen Bewegungen und Parteien würden gestärkt werden.
Zwar verstärkt die EU die Kontrolle durch Frontex, aber das wird nicht groß etwas ändern. Bislang kann man nur sehen, dass die EU-Regierung vor Erdogan zu Kreuze kriechen und ihn politisch in seiner Syrienpolitik unterstützen. Kritisiert werden Syrien und Russland, weil sie angeblich unschuldige Zivilisten in der Dschihadisten-Hochburg Idlib angreifen, während kein Wort darüber verloren wird, dass die Türkei hunderttausende Kurden durch die völkerrechtswidrigen Invasionen in Nordsyrien vertrieben und sich mit den Dschihadisten in Idlib verbrüdert hat. Die von der Türkei finanzierten Milizen, die mit den türkischen Truppen marschieren, bestehen weitgehend aus ehemaligen Dschihadisten, die das auch weiterhin sind.
Die angeblich "unschuldigen" Zivilisten in Idlib dürften vor allem Familienmitglieder von Dschihadistenkämpfern von HTS, Ahram al-Sham oder IS sein, die sich hierher zurückgezogen haben. Im Unterschied zu früheren syrischen Flüchtlingen werden diejenigen, die aus der "Rebellenhochburg" Idlib kommen, aus dschihadistischen Kämpfern und ihren Familien bestehen. Die Frage wird sein, ob Europa diese aufnehmen will.
Wenn die grüne Parteichefin Annalena Baerbock Hilfe für die Menschen in Idlib und Druck auf Russland fordert, verlangt sie gleichzeitig, dass dschihadistische Gruppen geschont werden sollen, was bei dem Vorgehen gegen den IS etwa in Mosul oder Raqqa nicht Thema war. Jetzt scheinen dschihadistische Kämpfer und ihre "unschuldigen" Familien aber schutzwürdig zu sein. Baerbock räumt ein, dass es in diesem Konflikt "keine gute Seite" gibt. Aber es müsste "humanitäre Zugänge" geben, was die Dschihadisten stärken würde.
Überdies unterstellt sie, dass Syrien/Russland nur Zivilisten bombardieren würden, während sie aber auch verlangt, dass die Türkei "die Kooperation mit den Dschihadisten beenden und sich zurückziehen" sollte. Das verdeutlicht, dass es eigentlich nicht möglich ist, sich für eine der Kriegsparteien zu entscheiden, was aber Baerbock dennoch macht und auch fordert, dass die EU Flüchtlinge aus humanitären Gründen aufnehmen müsse. Sollte sich das beschränken auf syrische Flüchtlinge? Sollen auch Angehörige von Dschihadistenkämpfern aufgenommen werden? Und sollte man sich der Instrumentalisierung der Migranten durch Erdogan unterwerfen? Die Grünen, die bereits Deutschland in den Kosovo-Krieg gezogen haben, bleiben eine konsistente Antwort schuldig.