Erdogans Krieg im Südosten der Türkei
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Der türkische Staat geht mit Gewalt und Terror in "Nordkurdistan" vor
Seit Bundeskanzlerin Merkel im Oktober Ministerpräsident Erdogan mit ihrem Besuch ein Wahlkampfgeschenk machte, hat die Türkei an Aufmerksamkeit gewonnen. Man erwartet sich von der Türkei Hilfe beim Flüchtlingsproblem. Dann kam der Abschuss des russischen Kampfjets, der Medien und Öffentlichkeit beschäftigte. Der Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung im Südosten der Türkei wird dabei weitgehend ausgeblendet.
Während der Gespräche zwischen Merkel und Erdogan wurde gerade die Stadt Cizre durch das türkische Militär und die Polizei belagert. Mindestens 20 Zivilpersonen wurden von Kräften des türkischen Staates umgebracht. Die enge Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Staat und Terrorgruppen, die Repression gegen die kurdische Bevölkerung und die Linke sowie die offenen Drohungen durch die türkische Regierung haben in den kurdischen Regionen der Türkei ("Nordkurdistan"), zu einem massiven Legitimitätsverlust des türkischen Staates geführt.
Festnahmewellen und Massaker gegen Selbstverwaltung
Nach den Festnahmewellen und mehreren Massakern durch offensichtlich mit der türkischen AKP- Regierung in Verbindung stehenden Terrorbanden in Diyarbakir, Ankara und Suruç gegen die Friedensbewegung und die Linke, und nachdem immer wieder Zivilpersonen von türkischen Sicherheitskräften erschossen worden waren, entschieden sich große Teile der Bevölkerung in etlichen Stadtteilen und Städten - wie Amed Sûr (Diyarbakir), Gever (Yüksekova), Colemerg (Hakkari), Gimgim (Varto), Cizîra Botan (Cizre), Farqin (Silvan), Derîk - ihre Stadtviertel selbst zu verwalten, unabhängig von den vom Staat eingesetzten Provinzgouverneuren.
Als der türkische Staat dann anfing, militärisch in diese Viertel vorzudringen und Übergriffe als "Exempel" vorzuführen, wie z.B. die Präsentation des misshandelten Körpers der Guerillakämpferin Ekin Van, begann die Bevölkerung damit, die Verteidigung einiger Viertel selbst in die Hand zu nehmen. Insbesondere die PKK-Jugendbewegung, YDG-H und YDG-K, spielt bei dieser Selbstverteidigung eine tragende Rolle.
Ein Großteil der Bevölkerung in den kurdischen Regionen empfindet den Staat als Bedrohung. Statt diese Tatsache anzuerkennen, und deshalb den Friedensdialog mit der PKK wieder aufzunehmen, startete die türkische Regierung eine Politik der militärischen Eskalation. Es wurden nicht, wie gewöhnlich, Gasgranaten und Wasserwerfer oder auch Sturmgewehre eingesetzt, sondern man begann, die Städte mit schweren Kriegswaffen, mit Artillerie und Panzern zu bombardieren. Ausgangssperren wurden verhängt und Scharfschützen auf den Dächern und Minaretten der Moscheen postiert. Menschen, die sich auf der Straße aufhielten, wurden immer wieder zu deren Ziel.
Silvan: ein demütigender Abzug der türkischen Sicherheitskräfte
Für die türkischen Soldaten, die zu Fuß hinter den Panzern des türkischen Militärs aus der seit zwei Wochen belagerten kurdischen Kleinstadt Silvan abziehen, ist das eine Demütigung: Die türkische Regierung musste die Sondereinheiten und das Militär geschlagen aus Silvan abziehen. Es war ihnen trotz massiven Beschusses und Belagerung nicht gelungen, den Widerstand in den drei umkämpften Stadtvierteln Silvans zu brechen. Widerstandstechniken, die im Kampf um Kobanî erprobt worden waren, werden nun in den Städten "Nordkurdistans" eingesetzt. So hängen Familien große Betttücher über die Straßen, um den Snipern kein Schussfeld zu bieten.
Ein Spalier der kurdischen Bevölkerung begleitete den Abzug mit Buh-Rufen und Parolen "Es lebe die PKK" oder "Es lebe Kurdistan". In den Straßen Silvans wurde der Abzug gefeiert. Die älteren kurdischen Männer geleiteten die Soldaten durch das Spalier der aufgebrachten Jugend bis an den Rand der umkämpften Stadtviertel, damit es keine Übergriffe seitens der aufgebrachten kurdischen Jugend gibt. Eine beeindruckende Geste: Zwei Wochen war die Stadt belagert, das türkische Militär hat auf eigenen Staatsgebiet auf alles geschossen, was sich bewegt, und die ältere Generation der Kurden geleitet die türkischen Soldaten aus dem Krisengebiet.
Man könnte gar von staatlichen Terrorgruppen sprechen, sieht man die zahlreichen Videos oder Twitter-Fotos aus Silvan. Zerstörte Straßenzüge erinnern an Kobanê, Sprüche von den türkischen Sondereinheiten an den Wänden - wie z.B.: "Wir jungen Wölfe haben Blut geleckt, wir töten euch alle" - deuten darauf hin, dass Erdogans Sondereinheiten jenseits des Militärs aus dem faschistischen MHP-Lager rekrutiert werden.
Man muss zwischen dem Militär und den Sondereinheiten unterscheiden: Zweifellos geht das Militär skrupellos gegen die eigene Bevölkerung vor. Aber unter den Soldaten befinden sich auch junge wehrpflichtige Kurden, die in einen großen Loyalitätskonflikt geraten. Deutlich zu sehen in einem Video aus Silvan, wo ein junger Soldat, sicher geleitet durch kurdische Männer mit einem Schulterklopfen durch den Spalier gebracht wurde.
Ausnahmezustand als Normalzustand
Der Ausnahmezustand wird in diesem Gebiet immer mehr zum Normalzustand. Die Situation Bürgerkrieg zu nennen, wäre falsch, denn es wird deutlich, dass es hier sich nicht um einen Konflikt verschiedener Bevölkerungsgruppen handelt, sondern um einen Konflikt zwischen Staat und Bürgern. So wurden während der nur kurzzeitig unterbrochenen 17-tägigen Ausgangssperre in Nusaybin mindesten neun Zivilpersonen von Sicherheitskräften getötet und 19 verletzt. Bei den Getöteten handelt es sich vor allem um ältere Menschen, die teilweise auf ihren Balkons oder in ihren Häusern durch die Fenster erschossen worden sind.
Auch Alltagsbesorgungen wie Wasserholen - das Wasser aus der Leitung ist wie der Strom gesperrt - werden zum potentiell tödlichen Unterfangen. In Derîk brannten nach sechs Tagen Beschuss und Belagerungszustand am 30.11. die ersten Gebäude in den acht Stadtvierteln unter Ausnahmezustand durch die Granateneinschläge. Auch hier war nach Berichten der Menschenrechtsorganisation IHD die Stromversorgung abgeschnitten, Wasserspeicher unter Feuer genommen worden und Scharfschützen der Sicherheitskräfte auf den Dächern postiert.