Erdogans Werk und Kilicdaroglus Beitrag
Mit der Unterstützung für Erdogans Krieg gegen die Kurden macht die türkische Opposition ihre Erfolge der letzten Monate zunichte - und begünstigt neue Allianzen mit Islamisten
"Wir beten dafür, dass unsere heldenhaften Soldaten sicher und gesund zurückkehren, wenn sie die Operation Friedensstrom erfolgreich beendet haben. Möge Gott unsere Jungs beschützen und sie zum Ruhm führen."
Diese beiden Sätze stammen keineswegs vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, nachdem er seiner Armee den Einmarsch in Syrien befohlen hat - sondern von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (CHP). Und es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass er sich vor Erdogans Kriegskarren spannen lässt.
Während die Welt entsetzt auf die sich im syrisch-türkischen Grenzgebiet anbahnende Katastrophe blickt, steht die Opposition nahezu geschlossen (nahezu, da die linksliberale prokurdische HDP als einsame Ausnahme standhaft bleibt) hinter dem Autokraten - und macht damit ihre sämtlichen Erfolge der letzten Monate zunichte.
Nun kommt der türkische Angriff keineswegs überraschend. Dass Erdogan entlang der türkisch-syrischen Grenze eine "Pufferzone" vorschwebt, ist kein Geheimnis. Schon seit Jahren hat er die Einnahme des Gebietes immer wieder ins Gespräch gebracht. Offiziell, weil er die Türkei vor Terroristen schützen will. Nur waren es die syrischen PKK-Ableger YPG/PYD, die die Terroristen des Islamischen Staates (IS) von dort vertrieben und zehntausende Kämpfer gefangen nahmen, während Erdogan mal mehr, mal weniger offen mit den Fanatikern kooperierte.
Angriff wird den IS wieder stärken
Als die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül 2015 über Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten in Syrien berichteten, wurden sie verhaftet. Dass IS-Kämpfer ungehindert die Grenze passieren und sich in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen konnten, war ein offenes Geheimnis. Da verwunderte es kaum noch, dass in Syrien verhaftete IS-Kader aussagten, der türkische Geheimdienst MIT habe auch von den verheerenden IS-Anschlägen in Ankara und Suruc 2015 gewusst und sie geschehen lassen - immerhin waren die Opfer Erdogan-Gegner. Und durch geleakte E-Mails von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak wurde bekannt, dass die Türkei dem IS beim Handel mit syrischem Öl half.
Wenn Erdogan also nun, wohl um sich internationales Verständnis zu erkaufen, behauptet, der Einmarsch in Syrien diene nicht nur der Bekämpfung von PYD/YPG, sondern richte sich auch gegen den IS, ist das schlicht unglaubwürdig. In den Reihen der türkischen Armee kämpfen Söldner, die zuvor auf Seiten der Radikalislamisten gekämpft haben - und auch in Afrin läuft die Zusammenarbeit der Türken mit Ex-IS-Kadern bereits seit geraumer Zeit. Man darf vor diesem Hintergrund an einen Zufall glauben, wenn zeitgleich mit dem türkischen Angriff auf Rojava gefangene IS-Kämpfer revoltieren und offenbar zu einem Ausbruch aus einem Gefangenencamp ansetzten. Man darf. Aber man muss nicht.
Schon seit Tagen mehren sich die Berichte über neue IS-Anschläge, unter anderem in Raqqa, und über ein Wiedererstarken der Terrormiliz. Da kaum zu erwarten ist, dass die Türkei nennenswert dagegen vorgehen wird, ist zu befürchten, dass die Islamisten in Syrien einen zweiten Frühling erleben werden - möglich gemacht durch den Abzug der US-Truppen, mit dem Donald Trump Erdogan faktisch einen Freibrief zur Vertreibung und Vernichtung der Kurden in der Region gegeben hat. Daran ändert auch sein nachträgliches Gepoltere auf Twitter nichts.
Erdogan will die Region von Kurden säubern - daran gibt es nichts schönzureden oder zu verharmlosen. Schon in den ersten Stunden zeigen Berichte aus den grenznahen Städten, dass sich die teils massiven Angriffe auf der Luft nicht um die Zivilbevölkerung scheren, die in Massen bereits auf der Flucht ist.
Dass nun ausgerechnet Ungarn, ein Land, dessen EU-Mitgliedschaft ohnehin höchst zweifelhaft ist, mit seinem Veto eine gemeinsame Erklärung der EU-Staaten gegen diesen Krieg verhindert hat, ist symptomatisch. Es ist mit solchen "Partnern" schlicht nicht möglich, die Werte von Demokratie und Frieden zu verteidigen - und auch nicht mit Appeasement gegenüber einem Despoten wie Erdogan, rein aus der Angst heraus, der halbgare Flüchtlingsdeal könnte platzen - zumal der nun beginnende Krieg eine neue Massenflucht auch in die EU auslösen dürfte.
Dass in dieser höchst gefährlichen Gemengelage, die nicht zuletzt sämtliche gegen den IS erzielten Erfolge zunichtemachen könnte, selbst die türkische Opposition nicht widerspricht, ist eine Katastrophe - vor allem für die Türkei.
Nur die HDP stellt sich nicht hinter den Krieg
Als Erdogans AKP bei den Parlamentswahlen im Sommer 2015 eine Niederlage einholte, setzte Erdogan erfolgreich auf Krieg und Neuwahlen. Heute steht er erneut - und wesentlich deutlicher als vor vier Jahren - mit dem Rücken zu Wand. Die Wirtschaft ist in schlechtem Zustand, die Umfragen miserabel (so miserabel, dass er unlängst anregte, per Verfassungsänderung dafür zu sorgen, dass schon 40 Prozent der Stimmen ausreichen, um Präsident zu bleiben), die Opposition hat ihm bei den Kommunalwahlen die wichtigsten Großstädte des Landes abgejagt, das Verfassungsgericht widersetzt sich seinen Wünschen, die eigene Partei zerbricht und ehemalige Weggefährten wie Ali Babacan, Abdullah Gül und Ahmet Davutoglu sind dabei, eine neue Partei zu gründen. Mehr denn je glaubten die unterschiedlichen oppositionellen Lager zuletzt, Erdogans Macht könnte soweit angeschlagen sein, dass vorgezogene Neuwahlen seine Herrschaft beenden könnten.
Und nun? Beginnt Erdogan einen neuen Krieg - und wie von Zauberhand schließen sich die Reihen wieder hinter ihm. Die vielleicht bitterste Ironie dabei: Ohne die Unterstützung der HDP wäre die CHP bei den letzten Wahlen längst nicht so erfolgreich gewesen. Sie hätte verstehen können, dass es ohne ein Bündnis mit den Kurden nicht weitergehen kann in der Türkei. Hätte. Dass die Nationalisten, sowohl rechts als auch links, gegen den Krieg nichts einzuwenden haben, ist hingegen die kleinste Überraschung, Nach denen kann man die Uhr stellen.
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