Erinnerungslücken?
Im Propagandakrieg um die öffentliche Meinung werden wieder die Bilder vom 11.September aufgetischt
Werbeagentur soll für besseres Image sorgen::9942
Die Trümmer rauchen immer noch auf Ground Zero, doch die politischen Führer des Westens halten es für notwendig, die Bevölkerungen der von ihnen regierten Länder daran zu erinnern, warum Bomben auf Afghanistan fallen. Der britische Premierminister Tony Blair, der vor kurzem als "Sonderbotschafter des Weißen Hauses" bezeichnet wurde, stellt sich einmal mehr an die vorderste Front im Krieg um die Schlagzeilen.
Anfang dieser Woche hatte die Tageszeitung The Guardian eine Exklusivmeldung: Alastair Campbell, seit der letzten Wahl im Juni vom Sprecher des Premierministers zum "Director of Communications" befördert, verbrachte zwei Tage in Washington, um mit wichtigen Vertretern der Bush-Adminsitration, darunter Ari Fleisher und Condoleezza Rice, geheime Beratungen abzuhalten. Im Zentrum der Gespräche soll die Entwicklung einer neuen Kommunikationsstrategie gestanden haben. Da der "Krieg gegen den Terror" in den Gesteinsklüften Afghanistans kaum Fortschritte macht, besteht die Gefahr, die Meinungshoheit zuhause zu verlieren. Die Nachricht von der Washingtonreise Campbells lässt Erinnerungen wach werden. Als zivile Opfer im Kosovokrieg die NATO in Bedrängnis brachten, wurde Campbell nach Brüssel geschickt, um der Medienoperation des Bündnisses das Rückgrat zu stärken. (vgl. TP-Bericht: Blair leiht NATO seinen obersten Mediengeneral)
In der Tat, die Unterstützung für den Krieg ist schwankend geworden. Laut einer von Guardian/ICM durchgeführten Umfrage befürworten nun 62% der Briten den Krieg gegen die Taliban, vor kurzem lag dieser Wert noch bei 74%. Immer mehr Abgeordnete vom linken Flügel der Labour-Partei bezweifeln öffentlich die Sinnhaftigkeit und Zielrichtung der Vorgehensweise. Presse und elektronische Medien, bislang weitgehend auf Linie, heben immer eindringlicher das Leid der afghanischen Zivilbevölkerung hervor und fordern eine Aussetzung des Bombardements, um vor dem Winter noch Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter nach Afghanistan bringen zu können. Und in der islamischen Welt wächst der Widerstand von der Straße gegen amerikafreundliche Regierungen.
Die Strategie, die sich Blairs "Kommunikationsdirektor" nun ausgedacht hat, wird seit Anfang dieser Woche auf britischen Fernsehschirmen augenscheinlich. Mehr als drei Wochen nach Beginn der Luftangriffe regieren zum ersten Mal nicht mehr die dunkelgrünen Nachtbilder oder die aufsteigenden Rauchsäulen von Bombenangriffen tagsüber. Rewind und Replay lautet stattdessen die Devise: Nun dürfen wir wieder sehen, wie die entführten Boeings in die Türme des WTC krachen. Als ob irgendjemand diese Bilder vergessen könnte, wird erneut das zuvor unvorstellbare, makabere Wirklichkeit gewordene Ereignis in die Wohnzimmer geliefert.
Synchronisiert dazu kommt die verbale Botschaft vom Premierminister, aber auch von führenden Kabinettsmitgliedern wie Außenminister Jack Straw. In einer von mehreren, gerne als historisch bezeichneten Ansprachen, versuchte Blair am Mittwoch in kaum verhohlener Anspielung auf den Geist Churchills die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung aufrecht zu halten. "Wir werden nicht aufgeben," "nur jetzt nicht die Nerven verlieren," "es kann lange dauern, aber am Ende werden wir siegen" lauten die Appelle Blairs. Die Schlüsselbotschaft aber ist: "Lasst uns zurückgehen zu dem Ausgangspunkt dieses Konflikts. Am 11.September wurden Tausende Menschen in den schlimmsten Terroranschlägen aller Zeiten kaltblütig ermordet. Das ist eine Tatsache," sagte Blair vor dem Regionalparlament in Wales.
Etwas unverhohlener ist hingegen das Medienmanagement in den Äußerungen von Außenminister Jack Straw. Dieser kritisierte Anfang der Woche die Medien, die Regierung nicht mehr genügend zu unterstützen. Wie schon im Kosovo-Krieg seien die Medien nach drei Wochen (ergebnislosem) Bombardements "wobbly", also wackelig geworden. Die "schwabbelnden" Reporter und Kommentatoren würden am Ende, nach dem Sieg der Koalition, eines besseren belehrt werden, erklärte Straw, mit Verweis auf den gerade vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal sitzenden Ex-Präsidenten Milosevic.
Doch die Kommunikationsstrategie von Alastair Campbell hat einige grobe Schwachpunkte. Selbst wenn die britischen Medien zur Räson gerufen werden können (auch daran gibt es Zweifel), so gewinnt man Kriege nicht in den Schlagzeilen. Das bevorzugte Kriegsmittel, die sogenannten "intelligenten Bomben", haben die dumme Eigenschaft, häufig die falschen Ziele zu treffen, wie etwa zivile Wohnviertel oder Rotkreuz-Lagerhäuser. Nicht nur in der islamischen Welt wächst die Ablehnung gegen diesen Stil der Kriegsführung. Zugleich scheint den militärischen Planern der Plan zu fehlen, wie sich sichtbare Erfolge erzielen lassen. An der diplomatischen Front herrscht indessen noch größere Unklarheit, wie eine afghanische Koalition aufgebaut werden kann, die in der Lage ist, das Taliban-Regime abzulösen und alle Konfliktparteien und Anrainerstaaten zu befriedigen.
Ein Medienkommentator meinte angesichts dieser Entwicklungen, Blair solle weniger Ansprachen halten und sich mehr um die Wurzeln des Konflikts und um deren Bekämpfung kümmern. Tatsächlich könnte sonst ein doppelter Backlash drohen. Während die Verbitterung in der Welt über die Ausübung der neuen Weltordnung wächst und neue bin Ladins gebiert, scheinen die westlichen Politiker vor allem um ihr Image und die Steuerung der medialen Aufmerksamkeit bedacht. Doch der Druck auf die freie Meinungsäußerung und die Beschneidung von Grundrechten mit Anti-Terrorgesetzespaketen scheinen wenig geeignet, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken, deren Werte mit diesem Krieg unter anderem angeblich verteidigt werden sollen.