Ernährung und Landwirtschaft in Zahlen
Vermessung der Not - Der Welthungerindex (WHI)
Der WHI wird jährlich von der International Food Policy Research Institute (IFPRI) und der Welthungerhilfe erstellt. Mit dem Index werden inzwischen 122 Länder erfasst. Der WHI kombiniert dabei drei Hauptindikatoren.
Grundformel: = ( + + ) / 3
PUN: Unterernährte in der Bevölkerung (in Prozent)
KUW: Kinder unter fünf Jahren mit Untergewicht (in Prozent)
KS: Kinder, die vor Erreichen des fünften Lebensjahres sterben (in Prozent)1
Der WHI geht über die Hungerdefinition der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hinaus. Diese konzentriert sich auf die Kalorienzufuhr pro Tag und Person, die wenig über die gesellschaftliche Verteilung der Nahrungsmittel aussagt. Der WHI hingegen kann durch die Ausrichtung auf die Versorgungs- und Sterberaten der Bevölkerung, insb. der Kinder, Verteilungskonflikte besser erfassen. Ebenfalls lassen sich Verbesserungen in der medizinischen Versorgung erkennen.
Prägnant positive Beispiele sind die Entwicklungen in Angola und Nicaragua (Beendigung der Bürgerkriege) und in der Türkei (langer Wirtschaftsaufschwung) sowie die negative Entwicklung angesichts des Zerfalls des Kongos.
Im WHI werden insbesondere die Daten der Schwellen- und Entwicklungsländer zusammengefasst. Aus Sicht der Herausgeber ist "Hunger" kein Problem der Industriestaaten. Der Bericht stützt sich weitgehend auf offizielle Zahlen der Vereinten Nationen. Entsprechend werden einige Länder wie Afghanistan, Irak oder Somalia durch den WHI nicht erfasst. Offiziell wird dies mit der mangelnden Datenlage in diesen Ländern erklärt.
Die detaillierten Daten der FAO zur landwirtschaftlichen Produktion sowie die Vielzahl der örtlichen Projekte (beispielswiese für Afghanistan hier und hier) lassen an solchen Aussagen jedoch Zweifel aufkommen. Wesentlich ist wohl der politische Druck auf die Vereinten Nation die Situation in den umkämpften Staaten nicht zu publizieren. Reports wie der Bericht des ZDF und der BBC über Afghanistan oder der Organisation Child Victims of War für den Irak zeigen massive Ernährungs- und Hungerprobleme in diesen Ländern auf.
Der WHI-Index zeigt in den letzten drei Jahrzehnten, trotz Wachstum der Weltbevölkerung von ca. 4,5 auf über 7 Mrd., eine deutliche Verbesserung der Versorgung in allen Weltregionen. Die großen Durchbrüche wurden in den 1980/1990er Jahren erzielt. In Südasien (v.a. Indien, Bangladesch und Pakistan) hat es jedoch im letzten Jahrzehnt keine Fortschritte gegeben. Der Anstieg von Unterernährten in Indien (von 19% auf 21%) und Pakistan (24% auf 26%) signalisiert sogar zunehmende Versorgungsprobleme.
Hinter der leichten Verbesserung in Subsahara-Afrika verbirgt sich eine regional sehr differenzierte Entwicklung (Demokratischen Republik Kongo und Burundi drastische Verschlechterung; im Gegensatz zu Ghana und Angola). Ebenfalls zeigen sich zunehmende Grenzen in Südasien inkl. China. Je nach Land gelten dort zwischen 10 - 15% der Bevölkerung als mangelernährt. Fortschritte beruhen hier v.a. auf abnehmenden Sterberaten von Kindern und Säuglingen infolge einer besseren medizinischen Versorgung.
Schlüsselt man die Ernährungssituation nach der FAO auf, ergibt sich ein differenziertes Bild. Einerseits sank die Zahl der Unterernährten weltweit von 880 Mio. im Jahre 1970 (ca. 26% der Weltbevölkerung) auf knapp unter 800 Mio. im Jahr 1997 (ca. 13% der Weltbevölkerung). Der niedrigsten jemals gemessenen Zahl an Hungernden seit Beginn der Statistik.
Diese Erfolge sind wesentlich den Entwicklungen in Indien und China zu verdanken. Während in China die Zahl der Unterernährten tendenziell stabil bis leicht sinkend ist, nimmt in Indien, insbesondere im Landesinneren, die Zahl der Hungernden seit Ende der 1990er Jahren wieder zu.
Außerhalb dieser beiden Länder ist die Anzahl der Unterernährten weltweit angestiegen. In den letzten vier Jahren hat sich diese Tendenz beschleunigt. 2009 wurde mit über einer Milliarde Unterernährten die höchste jemals gemessene Zahl weltweit erreicht (ca. 15% der Weltbevölkerung).
Kosten des Lebens - Steigende Lebensmittelpreise
Der Anstieg der Hungernden in den letzten 10 Jahren, hängt wesentlich von der Entwicklung der Weltmarktpreis für Nahrungsmittel ab. Der Index für Lebensmittelpreise hat sich seit 2002/2004 fast verdoppelt. Im Index werden vor allem Fleisch, Getreide, Mais und Ölsaaten erfasst. Er gibt den jährlichen Durchschnitt für entsprechende Lebensmittel an. Dabei werden aber die monatlichen Schwankungen ausgeblendet, die die dargestellte Entwicklung z.T. deutlich übertreffen.
Der Preisanstieg wird sich in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen. Das IFPRI geht in einer Studie zur Entwickling der Landwirtschaft bis 2050 im Basisszenario von einer Verdopplung der Preise für Mais sowie eine 50%-Verteuerung für Reis und Weizen aus. Die Ursache für den nicht so extremen Anstieg für Reis und Weizen liegt insbesondere in steigenden Niederschlägen auf der Nordhalbkugel. Dadurch können, kombiniert mit steigenden Temperaturen, Produktionsverluste im Süden teilweise ausgeglichen werden.
Herausforderung Zukunft - Veränderung Agrarflächen und Exportfähigkeit
Die weltweite Agrarfläche wird in den nächsten Jahrzehnten weitgehend stabil bleiben. Je nach demographisch-klimatischem Szenario entwickeln sich die landwirtschaftlichen Produktionsflächen in den einzelnen Weltregionen aber sehr unterschiedlich. Die heutigen Industrieländer werden Agrarflächen verlieren (Russland und USA je bis zu 5 Mio., Zentral-Europa ca. 4 Mio. ha). Die größten Verluste treten in China (18-20 Mio. ha) und Indien (10-15 Mio. ha) auf. Gleichzeitig werden die Agrarflächen in den ärmsten Entwicklungsländern deutlich zunehmen (Nigeria 10-11 Mio., Niger und Sudan bis zu 6 Mio., Äthiopien bis zu 5 Mio. ha). Auch Brasilien dehnt nach heutigen Schätzungen seine Agrarfläche um bis zu 11 Mio. ha aus.
Damit treten problematische Entwicklungen hervor. Die landwirtschaftliche Produktion konzentriert sich weltweit in wenigen Gebieten. Die zehn größten Produzenten für die wichtigsten Nutzpflanzen Mais, Reis und Weizen vereinigen 82%, 86% und 65% der gesamten Erträge auf sich. Gleichzeitig werden die meisten dieser Länder mit Verlusten von Agrarflächen in den nächsten 50 Jahren konfrontiert sein. Ursachen sind neben klimatischen Veränderungen und Bodenübernutzung vor allem das Bevölkerungswachstum in den zentralen Gebieten Chinas, Indiens sowie weiterer Schwellenländer. Das Wachstum führt zu einer Ausdehnung der Städte und anderer Infrastrukturen auf Kosten der landwirtschaftlichen Produktionsfläche.
Insbesondere die Industriestaaten gleichen vermutlich die Verluste weitgehend durch eine Steigerung der Produktivität aus. Aber sie büßen dabei einen erheblichen Teil ihrer Exportfähigkeit ein - dominieren aber weiterhin den Handel bei allen wichtigen Nahrungsmitteln. In den Entwicklungsländern kontrastiert die Ausweitung der Landwirtschaft und der Produktivität mit einer deutlichen Zunahme der Bevölkerung. Noch weniger dieser Staaten werden in Zukunft in der Lage sein, die eigene Bevölkerung jederzeit mit genügend Nahrungsmitteln versorgen zu können. In Folge des Rückgangs der Exportfähigkeit der Industriestaaten, wächst das Risiko weltweiter Nahrungsknappheit.
Entsprechend ist der Ausblick für 2050 nicht eindeutig. Im Basisszenario der Studie von Nelson et.al. wird von einem Rückgang der unterernährten Kinder um 25% bis 2050 ausgegangen. Allerdings betrifft diese positive Entwicklung vor allem die Schwellenländer. In den armen Entwicklungsländern wird nur von einem Rückgang um 9% ausgegangen.
Das pessimistische Szenario (starker Klimawandel, schlechte ökonomische Entwicklung, starke demographische Zunahme) geht nur von einem leichten weltweiten Rückgang aus. Dem steht aber ein drastischer Anstieg unterernährter Kinder (+ 18%) in den armen Entwicklungsländern gegenüber.
Nahrung der Reichen - Nahrung der Armen: Unterschiedliche Ernährung auf der Welt
Die Ernährungsgrundlage der Entwicklungsländer ist vor allem Reis, Weizen und Mais. Weitere wichtige Energielieferanten wie Maniok und Sorghum sind in der hochentwickelten Welt nur Nischenprodukte. Entsprechend bleibt, auf Grund mangelnder Forschung, die Produktivität bei diesen Nutzpflanzen zurück. Die Versorgung mit tierischen Produkten wie Milch, Fleisch und Eiern spielt in den Drittweltländern eine sehr untergeordnete Rolle.
Der geringe Anteil von fleischlichen Produkten in den ärmsten Entwicklungsländern steht im deutlichen Kontrast zur Ernährung in den hochentwickelten Industriestaaten. Zwar stagniert auch dort der Konsum tierischer Produkte, aber auf einen deutlich höheren Niveau.
Entsprechend dient die Steigerung der Fleischproduktion um das Fünffache bei den wichtigsten Tierarten seit den 1960er Jahren vor allem der Versorgung der höchstentwickelten Volkswirtschaften. Dies ist auch an den sehr unterschiedlichen Entwicklungen der einzelnen Fleischlieferanten zu erkennen. Die Produktion von Schafen und Ziegen hat sich von 6 auf 13 Mio. t "nur" verdoppelt. Gleichzeitig hat sich die Produktion von Geflügel verzehnfacht und die von Mastfischen stieg sogar um das Vierzigfache. Eine Ausweitung der Rinderproduktion findet seit den 2000er Jahren kaum noch statt. Ursache sind die höheren Kosten für Rindfleisch, die insbesondere aus dem größerem Tierfutter- und Platzbedarf resultieren sowie steigende Tierschutzvorschriften in den Industriestaaten.
Weltweites Wachstum und seine Grenzen - Entwicklung der Landwirtschaft seit den 1950er Jahren
Insgesamt konnte die Anbaufläche der wichtigsten Nahrungsmittel seit den 1960er um ca. 30% gesteigert werden. Bei Reis und Weizen findet aber seit den 1980er Jahren eine Ausdehnung der Produktion kaum noch statt. Teilweise ist sogar ein Rückgang festzustellen. Lediglich bei Mais findet weiter eine Ausdehnung der Anbaufläche statt. Allerdings wird ein Großteil der Ernten nicht zur Nahrungsmittelversorgung verwendet, sondern als Energierohstoff.
Die Getreideproduktion konnte deutlich schneller gesteigert werden als die landwirtschaftliche Produktionsfläche. Insgesamt konnte die Agrarproduktion für Getreide fast verdreifacht werden. Im fast gleichen Maße hat sich die als Futtermittel eingesetzte Menge erhöht. Ihr Anteil liegt seit den 1960er Jahren weitgehend stabil bei 35-36 Prozent. Lediglich in den 1970er bis 1980er Jahren erhöhte sich der Anteil auf fast 40 Prozent. Der dann einsetzende Rückgang ist im Wesen auf den stagnierenden Fleischverbrauch in den hochentwickelten Industrieländern sowie auf die Produktionsverdrängung durch Agrarrohstoffe zurückzuführen.
Allerdings konnte trotz dieser enormen Steigerung kaum noch die Kalorienerzeugung pro Person erhöht werden. Seit den 1970er Jahren liegt die erzeugte Menge pro Person relativ stabil bei 300-330 kg pro Jahr. Ähnliche Entwicklungen finden sich bei Reis, Maniok, Sorghum und Früchten. Das schnelle Bevölkerungswachstum der letzten Jahrzehnte, hat die Steigerung in der Agrarindustrie weitgehend kompensiert. Die trotzdem bessere Versorgung ist dann auch wesentlich in einem Ausbau der Infrastruktur (Transport, Kühlketten, Haltbarkeit) zurückzuführen.
Zusätzlich zur Ausdehnung der Produktionsfläche wuchs die weltweite Produktivität in der Landwirtschaft seit den 1960er Jahren deutlich. Für die Hauptprodukte Mais, Reis und Weizen legte diese ca. um das 2,5-Fache zu. So steigert sich der Ertrag von Mais von 2 auf 5,2 t pro ha, der von Reis von 1,8 auf 4,3 t pro ha und der Weizenertrag von 1,2 auf 3,1 t pro ha.
Diese Kennzahlen sagen allerdings wenig über die konkrete Produktion in den einzelnen Ländern aus. Die Produktivität weist weltweit enorme Unterschiede auf.
Reis
Die hohen Erträge in Nordamerika als auch in Europa für Reis haben ihre Ursache im geringen Anbauvolumen. Es werden nur die Flächen genutzt, die ideale Standortbedingungen liefern. Asien hingegen muss als Hauptkonsument auch auf Böden ausweichen, die weniger geeignet sind. Größte Einzelproduzenten sind Indien mit 36 Mio. ha und China mit 30 Mio. ha Reisfläche. Die Produktivität beider Staaten ist dabei sehr unterschiedlich. China hat einen überdurchschnittlichen Ertrag von 6,5 t pro ha, Indien lediglich 3,3 t pro ha.
Weizen
Obwohl die Produktivitätszahlen bis auf Afrika relativ gleich aussehen, verbergen sich dahinter bedeutende Unterschiede. In der Europäischen Union (zweitgrößter Flächenanbau mit 26 Mio. ha) liegt die Produktivität bei 5,3 t pro ha. In Indien (größte Nutzfläche mir 29 Mio. ha) , Russland (22 Mio. ha) und den USA (19 Mio. ha) liegen die Produktivität deutlich darunter - Indien 2,8 t pro ha, Russland 1,9 t pro ha und die USA 3,1 t pro ha. Lediglich China (zweitgrößte Nutzfläche mit 24 Mio. ha) kann eine zur EU vergleichbare Produktivität mit 4,7 t pro ha aufweisen.
Die permanente Steigerung des Output geht mit negativen Folgen einher. So stieg der weltweite Düngemittelverbrauch von 14 Mio. Tonnen im Jahre 1950 auf über 160 Mio. Tonnen im Jahre 2011. Gleichzeitig mussten die Bewässerungssysteme permanent ausgebaut werden. Jedoch stagniert die bewässert Fläche bei ca. 45 ha pro 1.000 Einwohner seit den 1960er Jahren.
Die Verdreifachung der weltweit bewässerten Fläche (von ca. 90 Mio. ha in den 1950er Jahren auf gegenwärtig ca. 310 Mio. ha) konnte den erhöhten Bedarf der wachsenden Bevölkerung gerade ausgleichen. Es ist fraglich ob diese Entwicklung fortgeführt werden kann. Bereits jetzt leben ca. 3,5 Mrd. Menschen in Ländern, die ihre Grundwasserreserven übernutzen. Insbesondere in China, Indien, den USA und Südeuropa nehmen diese Probleme deutlich zu.
Damit wesentliche Säulen der modernen landwirtschaftlichen Ökonomie zunehmend fragwürdig. Insbesondere der permanent hohe Fleischkonsum als auch die zunehmende Verwendung von Pflanzen als (Energie-)Rohstoffe.
Beispielhaft wie kaum ein anderer Staat steht dafür die USA. Diese steigert seit Mitte der 1990er Jahre ihre Maisproduktion von 188 auf 313 Mio. Tonnen. Es erfolgte aber keine Ausweitung der Nahrungsmittelproduktion (ca. 9%). Die Zunahme wurde v.a. für die Steigerung der Ethanolproduktion verwendet - ca. 41% im Jahr 2011. Der jährliche US-Export von Mais (40-60 Mio. Tonnen) wurde seit den 1980er Jahren, trotz weltweit starkem Bevölkerungswachstum, nicht erhöht.
Kai Kleinwächter ist redaktioneller Mitarbeiter von Welttrends - Zeitschrift für internationale Politik.