Erosion der deutschen Wahl-Demokratie

Grafik: TP

Das Ergebnis der Bundestagswahl und die krisengeprägte Regierungskoalition verdeutlichen anhaltende Erosionen des bundesdeutschen Wahlsystems

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Die krisenhaften Ergebnisse der Landeswahl in Bayern, sollten Anlass sein das Gesamtsystem der bundesdeutschen Wahldemokratie zu überdenken. Seit 1949 durchlief das parlamentarisch-politische System der BRD vier Entwicklungsphasen. Symptomatisch dafür sind vor allem die Stärke bzw. der Niedergang der "großen" Parteien SPD und Union (CDU/CSU).

1. Konsolidierung (1949 - 1961)

In den Anfangsjahren der BRD war das politische Spektrum zersplittert. Im ersten Bundestag saßen neun Parteien. Weitere Parteien scheiterten an der Sperrklausel ("Fünf-Prozent-Hürde"). Eine Wahlbeteiligung von unter 80 Prozent sowie ein hoher Anteil ungültiger Stimmen signalisierten eine gewisse Distanz von Teilen der Bevölkerung zum neuen Staat.

Vor allem auf Grund des anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs inklusive der drastisch sinkenden Arbeitslosigkeit und sozialen Verbesserungen (bspw. die Rentenreform von 1957) konsolidierte sich die parlamentarische Demokratie. Innerhalb von zehn Jahren stieg die Wahlbeteiligung auf über 86 Prozent.

Dahinter stand auch die tiefe Wirkung einer über 30-jährigen Phase von Instabilität und Krieg sowie die Elendsjahre nach 1945. "Der Schock der Notzeit wirkte bis weit in das Wirtschaftswunder hinein. […] Die meisten Deutschen waren ganz auf die eigene Existenz zurückgeworfen; man braucht nicht die Psychoanalyse zu bemühen und einen kollektiven Verdrängungsakt zu konstruieren, wenn man sich damals einfach nur nach [einer Zeit sehnte], in der man nicht zu hungern brauchte, und im übrigen über das vergangene Böse schwieg."1 "Die Rückkehr zu einem ganz normalen Leben: Davon träumten viele Menschen in der frühen Nachkriegszeit."2

Damit einher ging eine steigende Wahl-Dominanz der Groß-Parteien mit ihrer nun demokratisch-konservativen Agenda. So entfernte sich SPD seit Anfang der 1950erJahre systematisch von "revolutionären" Forderungen und grenzte sich spätestens mit ihrem Godesberger Programm (1959) deutlich nach links ab. Und im Gegensatz zu ihren Vorgängern in der Weimarer Republik unterstützten die Unionsparteien (CDU / CSU) die parlamentarische Demokratie.

Im ersten Bundestag erhielten die drei Volksparteien (SPD, CDU, CSU) zusammen "nur" ca. 60 Prozent der Stimmen. Aber ihr Anteil stieg innerhalb von zwei Wahlen auf über 80 Prozent. Dezidiert anti-demokratische Strömungen erreichten weder dauerhaft starke Positionen in der Öffentlichkeit noch parlamentarische Repräsentanz.

Quelle: Wahlrecht.de. Darstellung: Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog)

2. Die Hochphase (1961 - 1983)

Von 1961 bis 1983 waren nur vier Parteien im Bundestag vertreten - SPD, CDU, CSU und FDP. Alternative Parteien mit einer realistischen Machtperspektive existierten nicht. Die FDP erhielt 1969 als einzige verbliebene "oppositionelle" Partei im Bundestag nur noch 5,8 Prozent der Stimmen. Sie drohte an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Ein Zwei-Parteiensystem mit SPD und Union schien möglich.

Die "Volksparteien" erreichten damit den Zenit ihrer Macht. Sie vereinigten "bis zu 90 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich" und repräsentierten ca. 80 Prozent der Wahlberechtigten. Sie beherrschten alle Ebenen des politischen Systems - von den Kommunen über die Länderparlamente bis zum Bundestag. Insbesondere die Durchsetzung der Notstandsgesetze von 1968 sowie die Sozialreformen und Atom-Programme der 1970er Jahre zeigten ihre umfassende Durchsetzungsmacht.

Diese Entwicklung vollzog sich im Einklang mit der politischen Stimmung im Land. In den Jahren 1972 und 1976 lag die Wahlbeteiligung bei über 90 Prozent. Ein solches Niveau der Partizipation wurde seitdem nicht wieder erreicht. Auch die Zustimmung für Union und SPD lag nie höher als in diesen Jahren. Mehr als 90 Prozent der aktiven Wähler gaben ihre Stimmen einer dieser Parteien.

Quelle: Wahlrecht.de. Darstellung: Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog)

Die Zahlen verdeutlichen sowohl die politische Kraft als auch die Schwäche der 68er-Bewegung bzw. ihrer problematischsten Deformation der RAF. Einerseits erreichten beide nie eine Begeisterung oder gar Mobilisierung der "Volksmassen". Außerhalb kleiner bürgerlich-studentischer Kreise beteiligte sich kaum jemand an den Demonstrationen oder unterstützte gar den bewaffneten Kampf. Besonders die Affinitäten zu asiatischen Denkern / Führern wie Mao Zedong oder Hồ Chí Minh stießen auf weitgehendes Unverständnis.

Prof. Peter Brückner (1922 - 1982), einer der Hauptdenker der 68er Bewegung, formulierte es treffend: "Was ist das für ein Klassenkampf der ohne Beteiligung und auch ohne sichtliches Interesse der Arbeiterklasse geführt wird? Was für ein Bürgerkrieg ohne Beteiligung von Bürgern?"3 Die Losung Rudi Dutschkes - "Langer Marsch durch die Institutionen" - war eine Anerkennung dieser Realität. Wenn es keine alternativen (macht-)politischen Strukturen gibt, sollten die vorhanden transformiert werden.

Andererseits erreichte die Studentenbewegung, dass insbesondere die SPD wesentliche Reformimpulse programmatisch übernahm und in reale Politik umsetzte. Die vor 1968 längst angelaufene "lustbetonte Liberalisierung"4 der Gesellschaft wurde so verstetigt. Außenpolitische Entspannung, Ausbau des Sozial- und Bildungssektors, Liberalisierung von Sexual- und Familienrecht sowie der Beginn einer modernen Umweltpolitik nahmen radikal-revolutionären Bewegungen ihre Kraft und veränderten die BRD. Die Zeit von 1968 - 1980 wurde zu einer Phase umfassender, wenn auch widersprüchlicher gesellschaftlicher Modernisierung.

Grundlegende Neuerungen von 1967 - 1980 (Auswahl)
Bildungssystem 1969 Berufsausbildungsgesetz
1971 Bundesausbildungsgesetz
1977 Öffnungsbeschluss Hochschulen
Familienrecht 1968 Mutterschutzgesetz
1969 verheiratete Frauen gelten als voll geschäftsfähig
1969 Reform des Kuppelparagrafen
1971 Programm Ausbau Beschäftigung Frauen im Staatsdienst
1974 - 1977 Liberalisierung Regeln Schwangerschaftsabbruch
Krankenkassen übernahmen:
Beratung Verhütung + Abbruch Schwangerschaft
1977 Reform Ehe- und Familienrecht u.a.
- Durchsetzung Partnerschaftsprinzip
- Frauen können ohne Erlaubnis Ehemanns Arbeit aufnehmen
- Einführung Familiengerichte
1979 Einführung Mutterschaftsurlaub
Umweltrecht 1974 Umweltbundesamtgesetz
1975 Bundeswaldgesetz
1976 Erneuerung Wasserhaushalt-, Abfall- und Atomgesetz
Sozialstaat 1967 Stabilitäts- und Wachstumsgestz
1969 Arbeitsförderungsgesetz
1969 Haushaltsgrundsätzegesetz
1970 Lohnfortzahlung für Arbeiter
1972 Flexible Altersgrenzen Renten
Sicherheit 1968 Notstandsgesetze
Quellen: Gabriele Meinhard 2007; Bundeszentrale für politische Bildung. Darstellung: Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog)

3. Eine schleichende Aushöhlung (1983 - 2005)

Mit Beginn der 1980er Jahre - deutlich vor der Wiedervereinigung - veränderte sich die bisherige parlamentarische Entwicklung. Ein schleichender Niedergang der Wahldemokratie begann.

Die Wahlbeteiligung sank auf das Niveau von 1949 - zwischen 77 und 80 Prozent. Der Stimmenanteil von SPD und den Unionsparteien ging zurück. Sie gewannen bei den Bundestagswahlen bis 2002 nur circa 77 Prozent der Wähler. Neben ihnen etablierten sich dauerhaft neue Parteien - ab 1983 Die Grünen und ab 1990 die PDS (später DIE LINKE). Gleichzeitig erstarkte die FDP wieder.

Dahinter stand ein Prozess der Abspaltungen von den Großparteien. Je mehr diese sich auf "die Mitte" konzentrierten, umso mehr Wähler verloren sie an den Rändern. Grüne als auch PDS / WASG / Die LINKE sind Ergebnisse dieser Entwicklung. Sie sind die abgesprengten linken, ökologischen und pazifistischen Flügel der SPD (Umwelt-/Friedensbewegung in den 1980er Jahren; Verweigerung Integration SED-Reformflügel 1990/91; gewerkschaftsnahe WASG nach 2002). Allerdings mobilisierten die "Spaltprodukte" immer nur einen Teil der Enttäuschten. Viele (potentielle) Wähler zogen sich aus dem politischen System zurück.

Auch die Union verlor am rechten Rand, wenn auch vorerst nicht in vergleichbarer Größenordnung. Unter der Kohl-Regierung dominierte eine prinzipielle Bereitschaft den rechten Flügel zu stabilisieren. Dafür griff die Union partiell auch rechtsradikale Thesen und Positionen auf. Diese Haltung wurde unter Angela Merkel weitgehend eingeschränkt. "Hardliner" wie Wolfgang Bosbach, Friedrich Merz und Roland Koch wurden ausgesteuert bzw. aus der Politik gedrängt oder wechselten wie Alexander Gauland die Partei.

In der FDP vollzogen sich ähnliche Prozesse. So sprach Möllemann mit dem "Projekt 18" inklusive antisemitischer Orientierung explizit rechte Wählergruppen an. Die Antwort der Etablierten - massive öffentliche Kampagnen, die ihn in den in den Selbstmord trieben.

Bis zur Etablierung der AfD scheiterten alle Versuche dauerhafter Erfolge rechts der Union. Aber die "verlorenen" Stimmen - für Parteien die, die "Fünf-Prozent-Hürde" nicht überwanden - zeigen deutlich, dass es immer ein beachtliches Potenzial gab (siehe Grafik "Verlorene" Stimmen). Ausschläge wie 1969 und in den 1990erJahre erfolgten vor allem auf Grund gescheiterter rechter Parteien. Die Partei-Eliten von Union und FDP wussten immer um die problematische Stärke dieses Wählerspektrums. Aber spätestens ab Ende der 1990er Jahre gab die Mehrheit der Partei- und Führungskader dieses Wählerpotenzial auf.

Für den ersten Bundestag galt eine andere Gesetzgebung. Quelle: Wahlrecht.de. Darstellung: Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog)

Lange Zeit blieben im linken Spektrum die Auswirkungen begrenzt und etablierte sich am rechten Rand keine neue starke Partei. So entstand der Eindruck von Scheinstabilität. Das Machtgefüge blieb erhalten, obwohl immer mehr nur noch aus Tradition wählten, die Partei wechselten oder die Teilnahme an Wahlen verweigerten. Die Etablierten verzichteten bewusst auf diese "Randgruppen".

Zusätzlich vermieden sie jede Polarisierungen, um gezielt andere Parteien zu schwächen. Unter Angela Merkel wurde diese "asymmetrische Demobilisierung" ein zentrales Strategieelement. Die damit einhergehende Aushöhlung des Systems nahmen die Parteikader der Union in Kauf.

4. Der Niedergang (2005 - Gegenwart)

Mit der Bundestagswahl 2005 brach der Stimmenanteil der "Möchtegern"-Großparteien in sich zusammen. 2009 und 2017 erhielten sie nur knapp über die Hälfte der abgegebenen Stimmen und repräsentierten auf Grund gesunkener Wahlbeteiligung "gerade noch 40 Prozent der Wähler". Beide(!) erzielen ihre historisch schlechtesten Ergebnisse. Darüber kann auch der kurze Höhenflug der CDU 2013 nicht hinwegtäuschen.

Bereits 2009 schätzte die leitende Redakteurin des Tagesspiegels Christiane Tissy Bruns die Lage pointiert ein: "Neu ist die Konstellation, dass sich um deutlich geschwächte Volksparteien, nicht mehr zwei oder drei 'kleine', sondern drei mittlere Parteien gruppieren, die zusammen mehr Wähler und Abgeordnete aufbringen als je die beiden 'Großen'." Damit ist eine Änderung der Verfassung ohne Einbeziehung der "Kleinparteien" unmöglich. Selbst eine große Koalition verschafft jetzt kein bequemes durch-regieren mehr.

Parallel zu den Verlusten von Union und SPD sackte auch die Wahlbeteiligung auf historisch niedrigste Werte. Negativrekord war die Wahl 2009, mit einer Beteiligung von unter 72 Prozent.

Quelle: Wahlrecht.de. Darstellung: Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog)

Wahlen auf Landesebene

Dieser deutliche Rückgang der Wahlbeteiligung vollzog sich auch in den Bundesländern. Spitzenwerte wie noch in den 1980er Jahren mit über 90 Prozent Wahlbeteiligung sind heute außerhalb jeder Vorstellung. Stattdessen mehren sich Wahlen, in denen nicht mal die Hälfte der Wahlberechtigten von ihrer Stimme Gebrauch machen (2015 Bremen 50,1 Prozent; 2014 Brandenburg 47,9 Prozent; bisher niedrigstes Niveau 2006 Sachsen-Anhalt 44,4 Prozent).

In den letzten 20 Jahren sank die durchschnittliche Wahlbeteiligung auf Landesebene unter das Niveau der 1940er Jahre. Die höchste Partizipation erreichten Schleswig-Holstein 2009 und Hessen 2013. Immerhin jeweils knapp über 73 Prozent der Wahlberechtigten nahmen teil. Das waren hohe Werte im Vergleich mit den anderen Wahlen des Zeitraums. Trotzdem reichten sie nicht einmal an den Durchschnitt von 1947-1949 heran.

Wahlbeteiligung auf Landesebene (1947 - 10/2018)
Jahrzehnt Anzahl Wahlen Durchschnitt Niedrigste Höchste
1940er 11 75% Niedersachsen 1947 65% Saarland 1947 96%
1950er 30 76% Baden-Würtemberg 1952 64% Berlin 1958 93%
1960er 23 76% Baden-Würtemberg 1960 59% Berlin 1963 90%
1970er 30 81% Hamburg 1970 73% Berlin 1971 89%
1980er 28 79% Bayern 1986 70% Rheinland-Pfalz 1983 90%
1990er 44 67% Brandenburg 1999 54% Saarland 1994 84%
2000er 33 65% Sachsen-Anhalt 2006 44% Schleswig-Holstein 2009 74%
2010er 27 61% Brandenburg 2014 48% Hessen 2013 73%
Quelle: Wahlrecht.de. Darstellung und Berechnung: Kai Kleinwächter (zeitgedanken.blog)

Dieser Trend vollzieht sich in allen Bundesländern. Es ist kein "Ost-Phänomen". Einen qualitativen Unterschied zwischen einem Brandenburg mit unter und einem Bremen mit knapp über 50 Prozent Wahlbeteiligung gibt es nicht.

Auch im Westen Deutschlands liegt die Partizipation flächendeckend unter dem Niveau der 1940er Jahre. Auch dort gehen mindestens 25 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung nicht mehr zur Wahl. Da der Anteil von Ausländern - ohne deutsche Staatsbürgerschaft und damit ohne Wahlberechtigung - im Westteil höher liegt, nimmt auch hier nur noch maximal 60 Prozent der Bevölkerung an der Wahl-Demokratie auf Landesebene teil.

Einschätzung

Das politische System befindet sich in einer tiefen Krise. Die alten Groß-Parteien erodieren während sich wachsende Teile der Bevölkerung dem politischen Wahlprozess verweigern. Betriebswirtschaftlich ausgedrückt verlor das Produkt "Demokratie" seit den 1970er Jahren ca. 20 Prozent seiner Kunden. Der zähe Verlauf der Koalitions-Verhandlungen über eine Schwarze Ampel im Bund und ihr Scheitern zeigen deutlich zukünftige Konflikte und Zerfallsprozesse auf.

Die jüngste Landtagwahl in Bayern (der Niedergang der CSU) und ihre Auswirkungen auf die morbide Großkoalition im Bund sowie auf das Wahlbündnis mit der CDU, offenbaren den anhaltenden parlamentarischen Erosionsprozess in Deutschland. Die Aushöhlung der Demokratie ist dabei nicht auf Deutschland begrenzt. In fast allen führenden westlichen Ländern brechen die politischen Systeme um. Aber das ist schon ein neuer Artikel.

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Kai Kleinwächter arbeitet als selbstständiger Dozent (Themen: Volkswirtschaftslehre, Grundlagen Betriebswirtschaft, Marketing, Unternehmensführung). Er ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends - Zeitschrift für internationale Politik. Ebenfalls bloggt der Autor auf seiner Homepage: zeitgedanken.blog.