"Es bleibt beim bekannten Zusammenspiel des Ärzte-Richter-Filzes"
Interview mit Rene Talbot von der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrieerfahrener zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Fixierung von Psychiatriepatienten
Das Bundesverfassungsgericht hat am 24.7. zur Frage von Fixierungen von Psychiatriepatienten entschieden: "Die Fixierung von Patienten stellt einen Eingriff in deren Grundrecht auf Freiheit der Person dar. Aus dem Freiheitsgrundrecht sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergeben sich strenge Anforderungen an die Rechtfertigung eines solchen Eingriff." Telepolis sprach mit Rene Talbot von der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrieerfahrener über die Entscheidung.
Sehen Sie nicht erste Fortschritte gegenüber dem bisherigen Zustand durch das Urteil des BVerfG?
Rene Talbot: Statt die menschenrechtliche Dimension und das Folterverbot zum Angelpunkt des Urteils zu machen, wird vom BVerfG also sofort die Gummidehnbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geltend gemacht. Damit wird der interpretatorischen Willkür nahezu schrankenlos Tür und Tor geöffnet.
Im Gegensatz dazu haben die Psychiatrie-Erfahrenen immer vorgetragen, dass es um eine folterartige Behandlung geht. Sie ist immer und unter allen Umständen verboten. Folter, sowie andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, kann kein Gesetz normieren und kann und darf keine Richterin und kein Richter rechtfertigen. Sie nötigt.
Geht es hier aber nicht um die Gesundheit der Betroffenen?
Rene Talbot: Diese Verletzung der Menschenrechte kann durch kein angebliches "Recht auf Gesundheit" gerechtfertigt werden. Das hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte 2017 endlich klargestellt, ausführlich ist das hier erklärt.
Kann der Richtervorbehalt, den das Bundesverfassungsgericht festgelegt hat, die Macht der Ärzte begrenzen oder ist es nur eine Verlagerung von den Ärzten auf die Justiz?
Rene Talbot: Nein, es bleibt beim bekannten Zusammenspiel des Ärzte-Richter-Filzes, eine doppelte Verantwortungsentlastung, weil der Arzt immer behauptet, der Richter hat es entschieden und der Richter behauptet, es sei eine medizinische Notwendigkeit.
Durch den Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wird der Richtervorbehalt nur zur Legitimationsgleitbahn, um die misshandelnde Fixierung dann noch unangreifbarer zu machen, weil nur in extrem krassen Einzelfällen ein anderer Richter dem legalisierenden Richter widersprechen wird, wenn es nur um eine Frage der Verhältnismäßigkeit geht.
Es soll nach dem Urteil ein richterlicher Bereitschaftsdienst eingerichtet werden, der über Fixierungen in der Psychiatrie entscheidet. Allerdings ist der nachts nicht besetzt. Sehen Sie hier Gefahren, dass am Ende doch die Ärzte entscheiden?
Rene Talbot: Die Ärzte werden weiter immer entscheiden und sich, wie bei der Zwangsbehandlung, gegebenenfalls auch nachträglich die richterliche Zustimmung holen. Insbesondere ist die Beweislage zum verzweifeln, wenn man ans Bett angebunden daliegt.
Wie soll man als vereinzelter Mensch dann in so einer ohnmächtigen Situation eine Klage bzw. Beschwerde dagegen führen? Die dokumentationsführende Gewalt ist ausschließlich beim medizinischen Personal. Das arbeitet als Racket und unterstellt sich gegenseitig automatisch gutes Handeln, wie z.B. die lange unaufgedeckt gebliebenen Morde durch Pflegepersonal beweisen.
Sie kritisieren den grünen Sozialminister von Baden-Württemberg Manfred Lucha, der den Richtervorbehalt in der Praxis begrüßt hat. Sehen Sie bei Politikern generell wenig Sensibilität gegenüber den Menschenrechten von Psychiatriepatienten?
Rene Talbot: Ja, ganz eindeutig, denn das nahezu gesamte politische Personal hat es seit 9 Jahren, trotz mehrfacher Hinweise, abgelehnt, die Behindertenrechtskonvention mit deren Verbot der psychiatrischen Zwangsmaßnahmen umzusetzen.
Auch die entsprechenden Aufforderungen von Seiten der UN haben daran nichts geändert. Die UN wird ignoriert, als wäre sie unmaßgeblich. Und darin wird die Politik nun auch noch durch das BVerfG bestärkt: In seiner Entscheidung ab Randummer 90 erklärt es die UN zur praktisch vernachlässigbaren Größe - offensichtlich ist die UN, zumindest in unserem Bereich, nur für Showeffekte gut.
Sie kritisieren, dass in deutschsprachigen psychiatrischen Fachzeitschriften wieder darüber diskutiert wird, ob Elektroschocks sinnvoll und machbar sind. Können Sie einige Beispiele nennen?
Rene Talbot: Wer sich unbedingt Elektroschocken lassen will, soll das in einer Patientenverfügung autorisieren, aber es wird das gewaltsame Elektroschocken, das psychiatrische Elektroschocken als Zwangsmaßnahme nun ganz offen als "wissenschaftlich gegründet" in folgenden Publikationen propagiert: Dr. Jakov Ganther und Prof. Jochen Vollmann vom Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin in Bochum tun dies in der Zeitschrift Psychiatrische Praxis (Ausgabe 44(06), 2017, Seiten 313-314) und Dr. David Zilles von der Uniklinik Göttingen und Matthias Koller, Richter am Landgericht in Göttingen, propagieren sie in der Zeitschrift Der Nervenarzt (März 2018, Band 89, Ausgabe 3, S. 311-318).
Es gibt offensichtlich da keine Schamgrenze mehr.