"Es gab oder gibt ein bundesweites Netzwerk" hinter dem NSU-Trio
Caro Keller von NSU-Watch über die Arbeit der Organisation, rechtsextreme Strukturen und warum man sich auf die Behörden nicht verlassen kann
In den Jahren 2000 bis 2007 ermordete ein nationalsozialistisch gesinntes Trio unerkannt zehn Menschen, davon neun aus rassistischen Motiven. Die [1][2]Ermittlungen führten häufig in eine falsche Richtung, die Angehörigen der Opfer und deren Familien gerieten stattdessen ins Visier der Polizei.
Nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im Jahr 2011 begann auch eine Aufarbeitung durch das bundesweite antifaschistische Bündnis NSU-Watch. Sie besuchten den Prozess in München und protokollierten die Entwicklungen. Selbstkritisch äußert sich Caro Keller, Redakteurin bei NSU-Watch, im Interview. Die Bereitschaft der Neonaziszene zur "Militarisierung" wurde unterschätzt. Umso genauer wurde der NSU-Prozess in München vom Kollektiv beobachtet. Im Verbrecher Verlag erschien im August 2020 das Buch "Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess", das diese Beobachtungen referiert und in einen größeren Kontext stellt.
Wer ist genau an NSU-Watch beteiligt?
Caro Keller: NSU-Watch ist ein bundesweites antifaschistisches Bündnis. Konkret organisiert sind da Gruppen, Einzelpersonen und Archive, die antifaschistisch ausgerichtet sind und zur extremen Rechten arbeiten. Zum Thema extreme Rechte arbeiten wir schon unterschiedlich lang. Manche seit den Achtzigern oder Neunzigern. Manche auch etwas kürzer, aber NSU-Watch hat sich explizit nach der Selbstenttarnung des NSU zusammengeschlossen.
Hattet ihr vor NSU-Watch den NSU auf dem Schirm?
Caro Keller: Nein. Wir mussten uns relativ bald eingestehen, dass wir als Antifaschist*innen, die sich mit der extremen Rechten und den Nazistrukturen jahrelang beschäftigt hatten, nicht bemerkt haben, dass diese Mordserie eine rassistische Mordserie ist.
Die zunehmende Radikalisierung der extremen Rechten wurde nicht wahrgenommen?
Caro Keller: Offensichtlich haben wir das unterschätzt. Antifaschist*innen und Journalist*innen haben sich im November 2011 aber in ihre Archive begeben, um zu schauen: Was wissen wir über die Täter, die jetzt namentlich bekannt geworden sind? Also Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Dann hat sich sehr schnell herausgestellt: Man hat sehr viele Fotos von denen vor dem "Untertauchen" gemacht, auf Demonstrationen beispielsweise. Man kannte die Strukturen und auch die Terrorkonzepte, die sie diskutierten. Diese Konzepte haben sie dann genauso umgesetzt.
Man hat das zum einen nicht ganz für voll genommen, dass sie das tatsächlich durchziehen, man hat ihnen das nicht zugetraut. Einige dachten auch, der Verfassungsschutz hat da so viel V-Leute drin, so etwas kann nicht passieren, ohne jetzt dem Verfassungsschutz zu trauen. Man hat jedoch gedacht, die Szene ist so durchsetzt, dass es zu so etwas nicht kommt. Man hat das falsch eingeschätzt.
Kannst du noch etwas zu den genannten Terrorkonzepten erzählen?
Caro Keller: Neonazis streben danach, ihre Ideologie gesamtgesellschaftlich umzusetzen, also ihre autoritäre, rassistische und antisemitische Vision einer "Volksgemeinschaft" zu verwirklichen. Seit dem Nationalsozialismus gelingt ihnen das in Deutschland nicht mehr durch eine Massenbewegung oder durch Wahlen. Also gibt es bereits seit Ende des Nationalsozialismus Konzepte, die einen anderen Weg suchen, einen Weg über besonders krasse Gewalt und eben Terror.
Jede Tat soll eine Botschaft sein an die Betroffenen aber auch an weitere Menschen, die bereit sind, rechten Terror auszuüben. Letzteren soll diese Tat zeigen, es ist Zeit loszuschlagen. Durch so eine Kettenreaktion möchte man, wie es immer heißt, "bürgerkriegsähnliche Zustände" oder den sogenannten "Race war" herbeiführen. Diesen gewinnt die extreme Rechte dann, so geht das Konzept weiter, und am Ende steht dann die "Volksgemeinschaft".
In den "Turner Diaries", einem Terrorkonzept in Form eines fiktionalen Romans, wird das zum Beispiel durchgespielt. Der NSU und andere Rechtsterrorist*innen haben sich dies zum Vorbild genommen. Die "Turner Diaries" kursieren bis heute in der extremen Rechten und finden vor allem im Internet große Verbreitung.
Die Morde wurden durch ein Neonazi-Netzwerk ermöglicht. Wie funktioniert dieses?
Caro Keller: Wie das Netzwerk genau funktioniert hat, wissen wir nicht. Das wurde von der Bundesanwaltschaft beim Prozess einfach ausgeblendet. Wir glauben nicht, dass es nur einige wenige Helfer für das NSU-Trio gegeben hat. Wir denken vielmehr, dass es ein bundesweites Netzwerk gab oder gibt. Aber, wie es genau funktionierte, wer was wusste, wie die Informationen weitergegeben wurden, wie die Ausspionierung funktioniert hat - das blieb ungeklärt.
Aber eigentlich bin ich ganz optimistisch, dass wir das in den nächsten Jahren herausfinden werden. Wir reden von zehn Morden, von drei Sprengstoffanschlägen, von fünfzehn Banküberfällen, da muss es sich doch bei mindestens einem herausfinden lassen, wie das ganz konkret im Detail funktioniert hat, wer daran beteiligt war. Das wird der Schlüssel sein, das ganze Netz aufzuschließen. Da sind wir und andere dran.
Da stellt sich die Frage nach den professionellen Ermittlungsbehörden, die über ganz andere Kapazitäten und Ressourcen verfügen als NSU-Watch.
Caro Keller: Sollte man meinen. Ich sehe uns nicht in Konkurrenz mit den Behörden und ich sehe uns auch nicht an einem Strang ziehen, sondern wir sind unterschiedliche Akteur*innen. Aber wir stellen natürlich fest, dass die Behörden ihre Aufgabe - und als Aufgabe meine ich mal ganz grob: Leute davor zu schützen, dass sie in ihren eigenen Läden, Gotteshäusern oder auf der Terrasse erschossen werden -, dass sie diese Aufgabe nicht erfüllen. Und wenn sie das schon nicht schaffen, muss zumindest die Aufklärung umfassend sein.
Der Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag von Halle zeigt wieder einmal, dass da Teile der Analyse von rechtem Terror immer noch fehlen. Wir können uns nicht auf die Behörden verlassen. Wir, auch als Gesellschaft, müssen Aufklärung und Solidarität mit den Betroffenen selbst in die Hand nehmen. Mit Appellen an den Staat kommt man nicht weit. Deshalb stecken wir unsere Aufgabe unabhängig von den Behörden ab.
"Der NSU ist auf das Kleinstmögliche eingedampft worden"
Die Behörden arbeiten häufig mit V-Männern. Die haben aber anscheinend nicht sonderlich bei der Aufklärung geholfen?
Caro Keller: Ja, ganz klar haben die Behörden den NSU nicht gestoppt. Sie haben nicht ermittelt, weil sie stattdessen massiv gegen die Betroffenen und die Angehörigen ermittelt haben. Die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes sind da irgendwo versickert. Das hat jedenfalls nicht zur Festnahme des NSU geführt!
Schon vor dem ersten Mord hätte man sie locker festnehmen können, muss man rückblickend sagen. Das ist einfach nicht gemacht worden. Diese Verantwortung ist klar. Das ist im Prozess von der Nebenklage, also von den Angehörigen und Überlebenden beziehungsweise deren anwaltlichen Vertretungen kritisiert, vom Gericht jedoch vom Tisch gewischt worden, weil sie sagten: Naja, man könnte heute überhaupt nicht sagen, ob der NSU trotz einer versuchten Festnahme der Polizei nicht hätten fliehen können. Darüber könne man keine Aussage machen. Die Bundesanwaltschaft und der Senat im NSU-Prozess behaupten, es gebe da keine staatliche Verantwortung.
Dann wäre aber nie ein Staatsversagen möglich, weil die Flucht immer mit gewisser Wahrscheinlichkeit besteht. Die Schwierigkeiten der Nebenkläger*innen, mit ihren Anliegen, auch einer Anerkennung des Leids, im Prozess durchzukommen, könnten den Schluss nahelegen, dass das Oberlandesgericht München bereits früh ein "Urteil" gefällt hatte?
Caro Keller: Nein, das nicht. Aber der NSU ist auf das Kleinstmögliche eingedampft worden. Es ist unwahrscheinlich, dass es noch Folgeprozesse geben wird. Das Urteil hat den NSU noch kleiner als die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer gemacht, die André Eminger als vierten Mann im NSU möglich gehalten hat. Welche Absicht dahinter steht oder wie das Gericht zu diesem Urteil gekommen ist, da haben wir natürlich keine Einblicke. Es ist verheerend, ein solches Urteil zu sprechen und es wären natürlich ein ganz anderer Prozess und auch ein ganz anderes Urteil möglich gewesen. Damit alle den Einblick bekommen können, wie wenig das Urteil dem NSU-Komplex angemessen ist, haben wir das schriftliche Urteil gemeinsam mit Frag den Staat im Juni dieses Jahres veröffentlicht.
"Der NSU-Prozess ist keine Warnung an die Rechte, das ist eine Ermutigung für die Neonaziszene"
Wie reagierten die Angehörigen darauf?
Caro Keller: Die Angehörigen haben den Prozess und das Urteil sehr stark kritisiert. Völlig zurecht. Das Wort Rassismus spielt in dem Urteil keine Rolle, die Betroffenen selbst spielen darin keine Rolle, die Ermordeten spielen keine Rolle und die gesellschaftliche Dimension spielt überhaupt keine Rolle. Mit dem Urteil wird man Rechtsterror nicht erklären und nicht stoppen können.
Aber wir wissen, da ist ganz Anderes möglich. Man sieht das auch wiederum in dem Halle-Prozess zu dem antisemitischen und rassistischen Anschlag, in dem die Nebenkläger*innen sich viel mehr Raum erstreiten konnten. Man muss bedenken: Solche Prozesse haben eine Strahlkraft. Sie sollen zukünftige Verbrechen verhindern. Sie sollten potenzielle Täter warnen: Wenn ihr so etwas Ähnliches macht, dann blüht euch dies hier.
Der NSU-Prozess ist aber keine Warnung an die Rechte, das ist eine Ermutigung für die Neonaziszene, loszuschlagen, da sie wissen, von uns kommt nur ein kleiner Teil vor Gericht und wir haben keine besonders schweren Urteile zu erwarten. Das liegt nicht an der Strafprozessordnung. Ich kann verschiedene Urteile aus den letzten Jahren vergleichen, da ist sehr viel Anderes möglich ist. Das ist eine bewusste Entscheidung, den NSU-Komplex nicht vollständig aufzuklären.
Wie gehen die Angehörigen der Mordopfer mit dem Ende des NSU-Prozesses um? Überwiegt die Erleichterung darüber, dass man die Täter nun kennt oder die Enttäuschung darüber, dass die Nebenklage mit ihren Forderungen nicht richtig durchgekommen ist?
Caro Keller: Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 stand bei vielen Angehörigen große Erleichterung im Vordergrund. Das kann man zum Beispiel in Büchern und Texten von ihnen lesen. Es wurde klar, dass sie mit ihrer Vermutung, dass die Mordserie einen rechten Hintergrund haben könnte, die sie jahrelang geäußert hatten, Recht hatten. Die Ermittlungen gegen sie hörten auf. Ihr Umfeld und sie konnten jetzt richtig trauern, so haben es einige formuliert.
Das ist aber vor neun Jahren gewesen, als sich der NSU selbst enttarnt hatte und es klar wurde, es war eine rassistische Mordserie gewesen. Aber jetzt stehen wir nach dem NSU-Prozess und müssen sagen: Klar, wer die Taten ausführte, war aufgedeckt. Aber wer war das Netzwerk? Die Personen, die ermordet wurden, wer hat die denn ausgewählt? Wer hat denn vor Ort die Informationen an den NSU geliefert? Wie hat das denn funktioniert? Diese wichtigen Fragen, die für die Nebenklage im NSU-Prozess sehr zentral sind, sind nicht abschließend beantwortet worden. Natürlich gehen die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden der Anschläge ganz unterschiedlich damit um.
"Der NSU-Komplex ist ein Riesenbeispiel für institutionellen Rassismus"
Die Angehörigen litten zudem unter den Vorurteilen der Ermittlungsbeamten, die bis hin zu Bezeichnungen wie "Türkenmorde" oder "Bosporusmorde" führten, also zu boulevardtauglichen Schlagwörtern. Wie weit wurden diese despektierlichen Ansichten der Ermittlungsbeamten vom Gericht oder der Bundesanwaltschaft als solche bezeichnet?
Caro Keller: Wir sprechen da von institutionellem Rassismus. Dieser ist vom Gericht nicht thematisiert worden. Auch nicht von der Bundesanwaltschaft. Die Nebenklage und parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben das sehr gut herausgearbeitet: Der NSU-Komplex ist ein Riesenbeispiel für institutionellen Rassismus. Das ist der Punkt unserer Arbeit: Wir beobachteten den NSU-Prozess, wir beobachten jetzt Prozesse, wir beobachten Untersuchungsausschüsse und sammeln dort das Wissen, schreiben auf, was in den Urteilen und Berichten dann vielleicht fehlt und geben dieses Wissen weiter.
Was zeigt sich bei euren Beobachtungen?
Caro Keller: In den Abschlussberichten findet sich nicht unbedingt das Wort Rassismus, wenn es um Behörden geht. Aber wir sind da, um diese Informationen aufzusammeln, um diese Art von Rassismus zu zeigen. Bei einem Teil der Gesellschaft ist das deutlich angekommen und sie hören nicht mehr den Behörden, sondern den Betroffenen zu. Das ist das, was für uns das Wichtige ist. Das ist das, was uns als Gesellschaft weiterbringt.
Wir müssen nicht warten, bis irgendwann ein Manfred Götzl (Vorsitzender Richter beim NSU-Prozess in München.-Anm. der Redaktion) oder ein Horst Seehofer versteht, was institutioneller Rassismus ist. Wir haben das verstanden - das ist schon mal der erste Schritt, Druck zu machen, dass sich da etwas ändert.
Was heißt das für eure zukünftige Arbeit? Was sind eure Forde[3]rungen?
Caro Keller: Das heißt: Netzwerke aufdecken, Netzwerke entwaffnen, aber auch aufpassen, dass der Rechten keine große Bühne bereitet wird. Problematisch ist etwa, dass es für die extreme Rechte möglich ist, permanent im Fernsehen aufzutreten und ihre Meinung zu äußern. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Man kann nicht jeden einzelnen möglichen Rechtsterroristen in Blick bekommen. Der Attentäter von Halle ist zum Beispiel mit der Erfahrung aufgewachsen, dass es normal sei, Antisemit zu sein, dass man dafür keine Konsequenzen zu fürchten habe. Er hat Menschen im Supermarkt auch schon mal rassistisch angebrüllt und keine Konsequenzen erfahren. Er ist dann den nächsten Schritt gegangen.
Was muss sich also ändern?
Caro Keller: Es muss aufhören, dass die Gesellschaft Rechtsterroristen den Rücken stärkt. Deshalb ist es nicht nur eine Behördenaufgabe, sondern auch eine gesellschaftliche, die richtigen Schlüsse aus rechtem Terror zu ziehen, um rechten Terror zu verhindern. Das ist in Bezug auf den NSU-Prozess immer noch nicht passiert.