Es gärt im Amri-Komplex
Videomaterial zum Anschlagsgeschehen wirft Fragen auf - Abgeordnetenhaus verklagt Bundesinnenministerium - Bundeskanzlerin in Abschiebungen von Amri-Komplizen involviert?
Nichts geht im Falle des Terroranschlages auf dem Breitscheidplatz in Berlin seinen geregelten Ermittlungsgang: -Neues Videomaterial zum Tatgeschehen zieht die offizielle Version ein weiteres Mal in Zweifel.
- Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse werden mit Beweismaterial beliefert, aber allem Anschein nach unvollständig.
- Wussten die Sicherheitsbehörden schon frühzeitiger, dass der Tunesier Anis Amri bei der Tat dabei gewesen sein soll, als es eingeräumt wird?
- Das Abgeordnetenhaus von Berlin verklagt die Bundesregierung auf vollständige Herausgabe von Akten zum Tatgeschehen. Und der Berliner Untersuchungsausschuss beantragt die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen zwei Beamte des Landeskriminalamtes wegen Auskunftsverweigerung.
- Im Untersuchungsausschuss des Bundestages erfährt man gar, dass die Bundeskanzlerin in Abschiebevorgänge von Kontaktpersonen Amris involviert war.
- Schließlich: Wiederholt treffen sich der Bundesinnenminister und der Berliner Innensenator mit Anschlagsopfern und versprechen wiederholt "lückenlose Aufklärung".
Video lässt neue Fragen aufkommen
Im August wurde weiteres Videomaterial zum Tatgeschehen öffentlich, das die Frage aufwirft, wohin sich der Lenker des Tat-LKW bewegte, nachdem er in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt gefahren war. Von der Todesfahrt selber kennt die Öffentlichkeit bisher nur eine 12 Sekunden lange Videosequenz, die das ARD-Magazin Kontraste ausgestrahlt hat. Der Film bricht ab, als der LKW zum Stehen kommt.
Das 12-Sekunden-Video ist ein Ausschnitt aus einem mehrere Minuten langen Video, aufgenommen aus dem Europacenter-Hochhaus am Breitscheidplatz. Auf ihm sieht man in der Folge, wie beim LKW die Fahrertür aufgeht und eine Person aussteigt. Das geschieht erst mehrere Sekunden, nachdem der LKW zum Stillstand gekommen war. In den zwei bis drei Sekunden nach dem Aussteigen rennt diese Person aber nicht etwa über die Straße auf die andere Straßenseite in Richtung U-Bahn-Eingang, sondern verbleibt in der Nähe des LKW.
Was dann geschieht, ist nicht mehr zu erkennen, da das Video an der Stelle geschnitten wurde, anzunehmender Weise vom Bundeskriminalamt (BKA). Das Video setzt sich erst fort, als hinter dem Tatfahrzeug bereits der gelbe Linienbus der Berliner Verkehrsgesellschaft steht. Es fehlen im Handlungsablauf 30 bis 40 Sekunden.
Diese Lücke füllt - teilweise - nun das vom Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) neu veröffentlichte 34 Sekunden lange Video, aufgenommen von der gegenüberliegenden Straßenseite, dem sogenannten Bikini-Haus. Auf ihm sieht man den Omnibus herannahen und zum Halten kommen. Das dauert etwa 30 Sekunden.
Die Lücke im Geschehensablauf wird allerdings nicht komplett geschlossen, denn nicht zu sehen ist, wie vorher der LKW durch die Buden zur Straße hin ausbricht, zum Stehen kommt, wie der Fahrer aussteigt und wohin er sich bewegt. Wurde das weggeschnitten oder setzte die Aufnahme erst danach ein?
Das Videomaterial passt jedenfalls nicht mit der bisherigen offiziellen Hergangsversion zusammen, nachdem der Fahrer sofort über die Straße gerannt und zur U-Bahn geflüchtet sei. Mit dieser unmittelbaren Flucht begründet die Bundesanwaltschaft (BAW) auch, warum der Täter keine Zeit gehabt habe, den regulären polnischen Speditionsfahrer erst am Anschlagsort zu erschießen. Das habe Amri getan, als er eine halbe Stunde zuvor den LKW in seine Gewalt gebracht habe, so die BAW.
Stattdessen kann das Videomaterial eher die Aussagen von mindestens drei Augenzeugen stützen, die im Cockpit des LKW zwei Personen wahrgenommen haben wollen. Ein Zeuge gibt gar an, der Beifahrer habe dem Fahrer ins Lenkrad gegriffen, so dass der LKW nach links auf die Straße gelenkt wurde. Wenn der Fahrer erst nach einigen Sekunden ausstieg, hätte er in dieser Zeit den Speditionsfahrer Lukasz Urban erschießen können. Tatsächlich haben mindestens zwei Zeugen nach der Todesfahrt auf dem Breitscheidplatz einen Schuss wahrgenommen.
Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse haben zwar umfangreiche Film- und Bilddateien vom Tattag, dem 19. Dezember 2016, in der Größenordnung von etwa "10 Terabyte" (Ausschussmitglied Martina Renner, Linke) zur Verfügung gestellt bekommen, allem Anschein nach befindet sich der mehrere Minuten lange Schlüsselfilm aus dem Europacenter aber nicht darunter. Mehrere Mitglieder des Bundestagsausschusses, die eine erste Sichtung des Materials vorgenommen hatten, konnten sich an dieses Stück nicht erinnern, zumal es als bisher einziges bekannt ist, das den Anschlag selber zeigt. Das Filmmaterial hat die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe vorliegen.
Mehrere Abgeordnete äußern den Verdacht, dass sie mit zu viel unwichtigem Material zugeschüttet werden sollen, um sie zu beschäftigen und ihre Untersuchungskapazitäten zu ersticken.
Was wollten die Polizisten in der Fussilet-Moschee?
Allerdings wirft noch anderes Videomaterial aus der Tatnacht ebenfalls Fragen auf: Aufnahmen aus Überwachungskameras gegenüber der Fussilet-Moschee in Berlin. Die Fussilet-Moschee war Treffpunkt der gewaltbereiten Islamistenszene. Amri hielt sich regelmäßig dort auf, auch kurz vor dem Anschlag soll er sie aufgesucht haben. Mehrere Sicherheitsbehörden führten Spitzel in der Einrichtung und wussten dadurch genau, welche Personen dort verkehrten.
Zusätzlich befindet sich kurioserweise direkt gegenüber eine große Polizeiwache, wo sowohl die Polizei als auch der Verfassungsschutz Überwachungskameras installiert hatten. Wie die Tageszeitung Die Welt berichtet, sollen diese Kameras festgehalten haben, dass kurz nach 1:00 Uhr am 20. Dezember 2016 zwei Polizisten in das Gebäude gehen, in dem sich die inzwischen geschlossene Moschee befand. Nur wenige Minuten später, um 1:11 Uhr, sollen sie wieder herausgekommen und weggefahren sein.
Was wollten die Polizisten in der Moschee und warum dauerte ihr Besuch nur wenige Minuten? Wenn ihr Interesse Anis Amri galt, könnte das bedeuten, dass er in den Ermittlerkreisen schon frühzeitiger als Täter in Betracht kam, als es bisher dargestellt wird. Bisher heißt es offiziell, erst um die Mittagszeit des Folgetages 20. Dezember habe dessen Identität festgestanden, nachdem man im und am LKW Handys, Portemonnaie und Papiere von Amri gefunden haben will. Verdächtig ist, wie die Welt-Journalisten schreiben, dass dieser Einsatz in der Moschee nicht im offiziellen Einsatzprotokoll aufgeführt sei.
Zurück ins Jahr 2019: Im August hat das Präsidium des Abgeordnetenhauses von Berlin entschieden, das Bundesinnenministerium auf vollständige Herausgabe von Akten zum Tatgeschehen zu verklagen. Die von dort an den Untersuchungsausschuss gelieferten Akten, so die fraktionsübergreifende Ansicht in dem Gremium, seien "unbrauchbar", weil geschwärzt oder leer oder nicht identifizierbar.
Das Bundesinnenministerium vertritt die Auffassung, eine Landesautorität habe eine Bundesautorität nicht zu kontrollieren. Dass sich der Anschlag in Berlin abgespielt hat und deshalb auch ureigenste Angelegenheit des Berliner Abgeordnetenhauses ist, zählt für die Bundesregierung nicht. Nun muss das Bundesverwaltungsgericht über den Konflikt entscheiden.
Der Berliner Ausschuss hat außerdem mittlerweile beim Landgericht Berlin die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen zwei Beamte des Landeskriminalamtes (LKA) beantragt. Die Kriminalkommissare L. und O. hatten im April 2019 als Zeugen gegenüber dem Gremium Auskünfte grundsätzlich und vollständig verweigert. Sie waren vor dem Anschlag im LKA-Staatsschutz mit dem Gefährder Amri befasst und hatten nach dem Anschlag die Amri-Akte manipuliert, indem sie ihre Erkenntnisse abgeschwächt und unter älterem Datum zu den Unterlagen gegeben hatten. Über die Höhe des Ordnungsgeldes wollte der Ausschuss keine Angaben machen. Es gehe ihnen, wie der Ausschussvorsitzende Stephan Lenz (CDU) gegenüber der Presse erklärte, nicht darum, "mit einer riesen Strafe zu drohen, sondern um einen symbolischen Wert". Sie wollten die Frage grundsätzlich geklärt wissen.
Die Auskunftsverweigerung von L. und O., die mit Amri am intensivsten zu tun hatten und auch seine Kontaktpersonen kennen müssten, ist durchaus auch im Interesse der Bundesregierung, die bemüht ist, Amri als Einzeltäter darzustellen. Die Frage ist allerdings nun, wer im LKA Berlin und im BKA eigentlich mit dem Amri-Freund Bilel Ben Ammar zu tun hatte und ob das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), wie im Falle Amri, auch im Falle Ben Ammar eine eigene Akte führte.
Lückenlose Aufklärung versprochen
Vor diesem Hintergrund ist das zur gleichen Zeit organisierte Treffen von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und dem Innensenator von Berlin, Andreas Geisel (SPD), mit Opfern und Betroffenen des Anschlages zu sehen, die angesichts der zahllosen Widersprüche im Amri-Komplex immer misstrauischer werden. Ende August trafen sich die beiden Innenpolitiker mit über 20 Verletzten und Hinterbliebenen, Seehofer bereits zum wiederholten Male. Nach Mitteilungen von Teilnehmern des Treffens versprachen beide "lückenlose Aufklärung" und "totale Transparenz". Seehofer habe erklärt, er habe "vollstes Vertrauen in den Untersuchungsausschuss" des Bundestages. Geisel soll Entsprechendes über den Berliner Ausschuss geäußert haben.
Lippenbekenntnisse, die im Widerspruch zum tatsächlichen Umgang der Regierungsexekutive mit den parlamentarischen U-Ausschüssen stehen. Und wenn mehr als zweieinhalb Jahre nach der Tat erneut demokratische Selbstverständlichkeiten versprochen werden müssen, kann es mit der Haltbarkeitsdauer solcher Versprechen nicht weit her sein.
Der mutmaßliche Tatkomplize Bilel Ben Ammar darf von den Abgeordneten nicht als Zeuge befragt werden
Rechtzeitig zur ersten Sitzung des Untersuchungsausschusses im Deutschen Bundestag Mitte September haben Bundesanwaltschaft und Bundesregierung via Medien mitgeteilt, dass der mutmaßliche Tatkomplize Bilel Ben Ammar von den Abgeordneten nicht als Zeuge befragt werden könne. Dafür fehle die Rechtsgrundlage.
Die mögliche Botschaft dieser lancierten Information: Der Untersuchungsausschuss wird erfolglos bleiben, seine Arbeit ist umsonst.
Ben Ammar war, obwohl Tatverdächtiger, auf Anordnung der Bundesregierung am 1. Februar 2017 abgeschoben worden und sitzt derzeit in einem tunesischen Gefängnis. Strenggenommen stellt sich nicht die Frage nach seiner Zeugen-, sondern nach seiner Mittäterschaft, und er müsste zwecks Ermittlungen nach Deutschland zurückgeholt werden.
Ben Ammar war nach dem Anschlag zehn Tage lang vom Bildschirm verschwunden. Am 3. Januar 2017 wurde er dann festgenommen, am 4. Januar erging gar Haftbefehl. Der Beschluss, ihn abzuschieben und damit aus dem Mordverfahren zu entlassen, muss bereits in dieser Zeit gefallen sein. Das belegte jetzt die Aussage der Zeugin Steffi Ö., die für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) sitzt, wo sich die Sicherheitsbehörden der Länder und des Bundes über gewaltbereite ausländische und islamistische Personen austauschen.
Am 30. Dezember 2016 habe das BKA bei einer Besprechung mitgeteilt, so die Zeugin, der Nachweis, dass Ben Ammar "Mittäter oder Mitwisser" sei, könne nicht geführt werden, seine Inhaftierung sei nicht möglich. "Erstaunlich" fand diese Aussage die Abgeordnete Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) vor allem vor dem Hintergrund, dass Ben Ammar zehn Tage lang untergetaucht war und noch überhaupt keine Vernehmung mit ihm stattgefunden hatte. Das geschah erst am 4. Januar 2017. Wie konnte das BKA also wissen, dass man ihm nichts nachweisen könne?
Noch am 13. Januar 2017 vertrat die Bundesanwaltschaft (BAW), die das Mordverfahren auf Ben Ammar ausgedehnt hatte, die Auffassung, es lägen "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass er in die Anschlagspläne eingeweiht und zumindest hilfeleistend beteiligt" gewesen sei. Erst aufgrund der Einflussnahme aus dem Bundesjustizministerium am selben Tag veranlasste die Karlsruher Behörde eine Abschiebeverfügung. Das gehört mit zur ganzen Wahrheit angesichts des aktuellen Schreibens der BAW, es habe "keine hinreichenden Verdachtsmomente gegen Ben Ammar gegeben", wie es die ARD verbreitet.
Weitere Bekannte Amris wurden ebenfalls abgeschoben
Aber nicht nur Ben Ammar wurde außer Landes geschafft, zahlreiche Kontaktpersonen Amris wurden demselben Vorgang unterzogen. So am 22. Februar 2017 Khaled A., Tunesier, Drogendealer und Mitbewohner Amris.
Komplizierter gestaltete sich das Vorhaben bei Mohammed Ali D. und Karim H. (auch Abdelmontasser H.), mit denen Amri ebenfalls zusammengewohnt hatte und mit denen er ebenfalls gemeinsam Drogengeschäfte betrieb. Auch sie Tunesier. Karim/Abdelmontasser H. beispielsweise soll ebenfalls im GTAZ Thema gewesen sein. Weil alle drei im Juli 2016 an einer Messerstecherei beteiligt waren, lief gegen Karim/Abdelmontasser H. seit 2016 bereits ein Strafverfahren, am 6. Februar 2017 erging Haftbefehl, im Mai 2017 wurde er verurteilt. Mohammed Ali D. wurde am 3. März 2017 verhaftet und im Juni 2017 verurteilt. Zu dieser Zeit begannen sich die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zum Komplex Breitscheidplatz zu etablieren. Die beiden Häftlinge und Ex-Amri-Komplizen waren Zeugen und wurden dann auch von den Abgeordneten befragt. Inzwischen sind beide abgeschoben.
Bundeskanzleramt war eingeschaltet
Das wollte die Bundesregierung Anfang 2017 bereits betreiben, ehe ihr der Rechtsstaat in die Quere kam. Im Februar 2017 stand die Bundesregierung in Verhandlungen mit Tunesien, weil sie diese Kontaktpersonen Amris loswerden wollte. Das führte bis auf die höchste politische Ebene ins Bundeskanzleramt und zu Angela Merkel.
So schrieb die Regierungsamtsfrau im BAMF, die Zeugin Steffi Ö., am 14. Februar 2017 eine Email an das BKA und erbat Auskunft zu Karim/Abdelmontasser H., weil "die Bundeskanzlerin heute Gespräche mit Vertretern Tunesiens führen" wolle, bei denen es unter anderem um dessen "Ausreisepflicht" gehen solle. Auch Mohammed Ali D. stand auf dieser "Abschiebeliste", wie es der Abgeordnete Benjamin Strasser (FDP) formulierte. Insgesamt sei es, so die BAMF-Zeugin Ö., um fünf bis sechs Personen gegangen.
Verantwortlich für das operative Geschäft dafür, dass "plötzlich alle Kumpels von Amri nach dem Anschlag abgeschoben werden sollten" (O-Ton Strasser), war, wie der Abgeordnete herausgefunden hat, die Staatssekretärin im Bundesinnenministerium (BMI) Emily Haber. Sie muss auch den Kontakt zur Bundeskanzlerin gehalten haben.
Verschiedene Formulierungen in Emails, die dem Ausschuss vorliegen, deuten darauf hin, dass die Vertreterin des BMI auch persönlich mit dem Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) zu tun hatte. ("Wird in der AG Status mit Staatssekretärin Frau Dr. Haber erörtert. Daher eilt es sehr!") Möglicherweise begab sich die Staatssekretärin nicht zum GTAZ, sondern ließ die Runde im Ministerium erscheinen. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob es eine direkte politische Einflussnahme auf Sicherheitsbehörden gab.
Auch die Abschiebung des Beschuldigten Ben Ammar hatte Haber, zusammen mit Kollegen aus dem Bundesjustizministerium, betrieben. Sie ist heute Botschafterin der BRD in den USA und soll im Oktober als Zeugin im Ausschuss gehört werden.