Es geht um das bürgerliche Bildungsprivileg, nicht um Rassismus

Seite 2: Linnemann spricht nur aus, was im deutschen Bildungssystem Realität ist

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Dabei sollte man sich für eine kritische Debatte wohlfeile, aber auch von Linnemann eingepreiste Rassismusvorwürfe sparen und vielmehr den Blick auf die Realität im deutschen Bildungssystem werfen. Dann würde deutlich, dass das Bildungssystem in Deutschland so ausgrenzend war und ist, wie es Linnemann ausdrückt. Anne Lehmann hat das getan und kommt zu einer ernüchternden Erkenntnis:

Linnemann geht es natürlich nicht um Gerechtigkeit. Seine Bemerkung atmet genau jenen Geist der Aussonderung und des Lernens im Gleichschritt, der das deutsche Schulsystem prägt. Statt zu fragen, wie kann die Schule dem Kind gerecht werden, wird immer noch viel zu sehr darauf geschaut: Passt das Kind zur Schule? Spätestens ab der vierten Klasse, wenn es um den Übergang aufs Gymnasium oder um andere Schulformen geht, betrifft diese Frage alle Grundschüler*innen. Und das nicht nur mit Unterstützung konservativer Politiker*innen und Lehrer*innenverbände, sondern auch mit Billigung vieler Eltern, die ihren Nachwuchs sicher vor den Schmuddelkindern beschult wissen wollen.

Anne Lehmann, Taz

Lehmann zeigt auch auf, dass dieser Geist der Ausgrenzung im Bildungswesen in der letzten Zeit stärker geworden ist. Das ist nicht nur und nicht mal in erster Linie eine Folge der Stärkung der AfD, die bis auf ihre Kampagne gegen eine angebliche Frühsexualisierung von Kindern in der Bildungspolitik bisher wenig Duftmarken setzen konnte. Der Geist der Ausgrenzung wird auch von einer neuen grünwählenden Mittelklasse erzeugt, die ihre Kinder so früh wie möglich auf Privatschulen schicken will, weil sie größere Aufstiegschancen ihrer Kinder dann steigen sehen, wenn sie so schnell wie möglich von Kindern mit wenig Deutschkenntnisse, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, getrennt werden.

Der elitäre Geist wird auch durch scheinbar libertär und freiheitlich daherkommenden Projekten wie "Leben ohne Schule" gefördert. Dort wollen ebenfalls Kinder einer sich freiheitlich gebenden Mittelstands nicht den Zumutungen der kapitalistischen Gesellschaft ausgesetzt werden. Es sind nicht zufällig Kinder, wie wir sie eher am Prenzlauer Berg, dem Stadtteil des grünen Mittelstands, als in Berlin-Kreuzberg sehen, die für den fiktiven Film "Leben ohne Schule" gecastet wurden. Hier findet das Aussieben schon von Anfang an statt. Heute ist hingegen noch immer das Realität, was Anna Lehmann gut so beschreibt:

Politiker*innen, die sich also jetzt darüber echauffieren, dass ein CDU-Politiker vorschlägt, Kinder schon vor der Einschulung auszusieben, sollten nicht länger dazu schweigen, dass diese Kinder ja ganz selbstverständlich nach der vierten Klasse von den anderen getrennt werden.

Anne Lehmann

Wie eine etwas solidarischere Schule an der Stimme des Volkes scheiterte

Lehmann erinnert auch mit Recht an den letzten Versuch, das bestehende Schulsystem etwas solidarischer zu gestalten. Es fand 2010 in Hamburg statt und scheiterte an einem von konservativen Elternverbänden gestarteten Volksbegehren. Die AfD gab es damals noch gar nicht, die CDU war in Hamburg mit den Grünen an der Regierung und gehörte zu den Unterstützern der Reform.

Nach der Ablehnung durch ein Referendum trat der CDU-Bürgermeister Ole von Beust zurück. Es war aber eine Niederlage für eine solidarische Gesellschaft, die Folgen hatte. Seitdem will sich niemand mehr in den größeren Parteien mit Vorschlägen für Schulreformen profilieren, die die Ausgrenzung der unteren Klassen minimieren.

Das aber war der Geist der Schulreformdebatte in den späten 1960er und 1970er Jahren. Schon damals mobilisierten die Konservativen aller Parteien gegen Reformen, die das Bildungsprivileg des Bürgertums einschränken sollten. Das zu verhindern, war auch das Ergebnis des Hamburger Volksbegehrens. Die Union konnte es als Signal verstehen, die Verteidigung der Besserverdienenden wieder zu ihrer Angelegenheit macht. Carsten Linnemann hat dieses Signal verstanden viele seiner Kritiker offenbar nicht.

Es geht um das bürgerliche Bildungsprivileg

Daher machen sie Linnemanns Äußerungen zu einem Problem des Rassismus und nicht zu einer Klassenfrage. So fällt unter dem Tisch, dass heute nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund Probleme mit den Deutschkenntnissen haben. Zudem stellt niemand die naheliegende Frage, warum Kinder mit Migrationshintergrund nicht bilingual erzogen werden sollen. Neben der deutschen Sprache sollte auch die Sprache der Herkunftsländer ihrer Eltern nicht vergessen werden.

Dann hätten sie die Möglichkeit, später selber zu entscheiden, in welchen Land sie leben wollen. Denn, wer sagt denn, dass sie die Entscheidung ihrer Eltern, ihre Heimatländer zu verlassen, nicht nachträglich ändern wollen? Vielleicht finden sie später ein Leben im Niedriglohnsektor in Deutschland nicht so attraktiv und wollen in den Ländern ihrer Herkunft ein Leben aufbauen? Sie könnten dann eine Entscheidung besser treffen, wenn sie auch diese Sprache beherrschen würden. Diese Wahlmöglichkeiten haben sie bisher nicht, wie der Fall des oben erwähnten Asif N. zeigt. Er hatte Deutsch gelernt, er wollte sich eine Zukunft in Deutschland aufbauen, er hatte eine Schreinerlehre begonnen und ihm wurde gezeigt, dass er nicht erwünscht ist.

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