"Es geht um die Halbierung des motorisierten Individualverkehrs"
Ein Gespräch mit Sabine Leidig über ihren Sammelband "Linksverkehr - Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung" und den Abschied vom Automobilismus
Deutschland wird von Spitzenpolitikern und Chefredakteuren großer Medien immer noch als Autoland dargestellt, Autofahren wird mit Freiheit in Verbindung gebracht - Ulf Poschardt, Chefredakteur von WeltN24, meint sogar, Autos hätten eine Seele. Warum sind Sie trotzdem optimistisch, dass es einen Kulturwandel gibt?
Sabine Leidig: Mein Optimismus ist natürlich auf diejenigen gerichtet, die sich in Bewegung gesetzt haben, um einen Kulturwandel, aber auch einen ökonomischen Wandel durchzusetzen. Ein Kapitel in meinem Buch heißt "Spürbar frischer Wind… of Change".
Wenn ich die elf oder mittlerweile fast zwölf Jahre revue passieren lasse, die ich jetzt auf Bundesebene Verkehrspolitik mache, dann sehe ich schon sehr deutlich, dass in den letzten zwei, drei Jahren enorm viele Akteure auf den Plan getreten sind, die es vorher gar nicht gab. Angefangen bei den Fahrrad-Volksbegehren-Initiativen über die Proteste gegen die Internationale Automobilausstellung und Autobahnblockaden sowie viele kleine und große Initiativen, die sehr aktiv sind und das Themenfeld Verkehr enorm politisiert haben.
Das sind aber alles aktive, überdurchschnittlich politisierte Leute. Sie trauen auch Bürgerräten mit zufällig ausgelosten Mitgliedern - wenn auch repräsentativ nach Bildungsgrad, Alter, Geschlecht, Stadt-Land, Migrationshintergrund und so weiter - mehr zu als der etablierten Politik. Warum?
Sabine Leidig: Weil diese Bürgerräte ja tatsächlich den Stand des gesellschaftlichen Bewusstseins zum Ausdruck bringen - und das ist wesentlich weiter als die von Lobbyisten geprägte Politik der Bundesregierung, die ganz klar die Handschrift der Unionsparteien trägt. Das muss einfach sagen: Die politische Rechte bestimmt im Moment noch die Verkehrspolitik. In der Bevölkerung hat sich zwar noch kein grundsätzlicher Wandel vollzogen, so weit ist es noch nicht, aber in vielen Punkten gibt es klare Mehrheiten, angefangen beim Tempolimit bis hin zu einer repräsentativen Umfrage im Januar dieses Jahres, bei der zwei Drittel der Meinung waren, dass der motorisierte Individualverkehr deutlich reduziert werden muss.
Das sagt natürlich noch nichts darüber aus, wie das passieren soll, aber das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann und dass es einen Richtungswechsel geben muss, das ist schon sehr weit verbreitet.
Für das Buch "Linksverkehr" haben Sie auch einen Automobilarbeiter interviewt, der sich in einer "Doppelrolle" bewegt, weil er zugleich Verkehrswende-Aktivist und bei Fridays for Future unterwegs ist. Haben Sie in Gewerkschaftskreisen auch mal heftige Abwehrreaktionen von Beschäftigten dieser Branche erlebt, denen dieses Thema Existenzangst macht?
Sabine Leidig: Ich habe das persönlich nicht erlebt, aber das liegt natürlich auch daran, dass ich nicht direkt in Automobilunternehmen unterwegs bin. Wenn ich auf gewerkschaftliche Veranstaltungen gehe, dann eher im Bereich der Bahngewerkschaft, da bin ich öfter eingeladen - auch zu Betriebsversammlungen. Allerdings habe ich auch Kontakte zu Betriebsräten anderer Bereich, das sind aber aktive IG-Metaller, oft auch Mitglieder der Linken, also nicht der Querschnitt der Automobilarbeiter.
Letzte Woche hatten wir eine spannende Online-Diskussion mit 35 Vertrauensleuten und Betriebsräten von VW Baunatal, in der Nähe von Kassel, wo ich auch lebe. Und das war schon sehr offen.
Auch der Betriebsratsvorsitzende hat deutlich gesagt, dass das Modell der deutschen Autokonzerne keine Zukunft hat, dass es eine Veränderung braucht und eine Verkehrswende nötig ist, die auf öffentliche Verkehrsmittel setzt. Inzwischen gibt es ja auch ein gemeinsames Positionspapier von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Umweltverbänden, in dem betont wird, dass es darum geht, soziale Gerechtigkeit und Verkehrswende zusammen zu denken - und nicht gegeneinander.
Was sagen Betriebsräte und Vertrauensleute über das Stimmungsbild in den Belegschaften der Autoindustrie - wie denkt dort die Mehrheit? Wollen da nicht einige, dass alles so bleibt wie es ist und blenden die Umweltkrise eher aus?
Sabine Leidig: Sagen wir mal so: Es gibt den Versuch der AfD, in den Automobilwerken mit einer eigenen Organisation genau diese Position zu fördern und die Angst der Leute zu politisieren. Die AfD ist ja die härteste Vertreterin eines ungebremsten fossilen Automobilkapitalismus.
Mit der eigenen Organisation meinen Sie die angebliche Gewerkschaft "Zentrum Automobil"?
Sabine Leidig: Genau. An einzelnen Automobilstandorten ist es ihnen zwar gelungen, Betriebsräte zu stellen, sie sind aber bei weitem nicht so stark, wie auch die IG Metall zeitweise befürchtet hat. Bei VW Baunatal hat "Zentrum Automobil" zum Beispiel gar kein Betriebsratsmandat.
Ist das nicht eher eine Branchenorganisation als eine Gewerkschaft, die explizit die Interessen der Beschäftigten vertritt?
Sabine Leidig: So ist es, aber dass sie punktuell erfolgreich kandidieren, drückt schon die Stimmungslage einer Minderheit aus, die sagt "Hauptsache, wir bauen weiter Autos, alles andere ist uns egal". Das ist aber eine kleine Gruppe, die auch klar nach rechts offen ist. Es gibt natürlich auch Nazis in den Autobetrieben - warum sollte es ausgerechnet da keine geben? - Aber was befürchtet wurde, als diese Organisation zum ersten Mal angetreten ist, das ist nicht passiert: Sie haben bei Betriebsratswahlen eben nicht richtig abgesahnt; es ist ihnen nicht gelungen, die Furcht vor Veränderung in den Betrieben für sich zu instrumentalisieren.
Das hat auch damit zu tun, dass es unabhängig von der Verkehrswende eine Automobilkrise gibt. Die Entlassungswelle, die jetzt ansteht, auch bei den Automobilzulieferern, die hat mit der sozial-ökologischen Verkehrswende gar nichts zu tun. Das sind Weltmarktkonkurrenzen, das ist die Umstellung auf Elektroautos - und es ist klar: Wenn es keine gesellschaftliche Gestaltungsmacht für eine planmäßige Transformation gibt, dann bleiben die Beschäftigten zu großen Teilen auf der Strecke.
E-Autos werden gerne von Gegnern der Umwelt- und Klimabewegung als Argument ins Spiel gebracht, warum das angeblich alles nichts bringt, weil E-Autos gar nicht soviel umweltfreundlicher sind. Was würden Sie darauf antworten?
Sabine Leidig: Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist die Halbierung des motorisierten Individualverkehrs in den nächsten zehn bis 15 Jahren. Für den Restbestand an privaten Pkws, die gebraucht werden, ist Elektromobilität im Moment die sinnvollste Lösung. Eine bessere Möglichkeit gibt es im Moment noch nicht.
Wenn wir mal optimistisch davon ausgehen, dass der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel schnell vorangeht und viele ihr Auto nicht mehr lange brauchen: Wäre es dann nicht umweltfreundlicher, den alten Diesel zu behalten, statt ein neues E-Auto zu kaufen, das erst mal produziert werden muss und dann vielleicht noch mit Kohlestrom fährt?
Sabine Leidig: Absolut. Jede Art von Abwrack- und Verschrottungsprämie ist natürlich absurd. Genauso wie der Abriss von bestehenden Häusern zugunsten von Neubau, weil das einfach eine enorme Energie- und Ressourcenverschwendung ist. Wenn vom Ende des Verbrennungsmotors bis 2030 die Rede ist, geht es immer um die Neuzulassungen. Wenn ab dann neue Autos gekauft werden, dann nur noch mit Elektromotor.
Die Kaufprämien sind aber eine ziemlich elitäre Angelegenheit. Wer sich einfach mal ein richtig gutes Fahrrad kaufen will, bekommt dafür nicht so einfach Geld vom Staat.
Sabine Leidig: Die von Verkehrsminister Andreas Scheuer vorgeschlagene steuerliche Fahrradförderung, ist jedenfalls auch eher eine Nummer für Leute, die es nicht nötig haben. Schon jetzt profitieren davon Führungskräfte - zum Beispiel bei Eon -, die sich ein E-Bike für 5.000 Euro angeschafft haben, das sie in ihrer Freizeit nutzen, weil das "Jobrad"-Leasing-Modell Steuerersparnis bringt. Und das oft zusätzlich zum Dienstwagen, der weiter gefahren wird. Stattdessen müsste der Staat allen, die sich kein Auto leisten können oder wollen, ein gutes Fahrrad sponsern.
Sabine Leidig ist Gewerkschafterin, seit 2009 Bundestagsabgeordnete der Fraktion Die Linke sowie deren verkehrspolitische Sprecherin und Beauftragte für soziale Bewegungen. Zuvor war sie Geschäftsführerin von Attac Deutschland. Der von ihr herausgegebene Sammelband "Linksverkehr - Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung" ist am 6. Mai im oekom-Verlag erschienen. ISBN: 978-3-96238-304-6, Softcover, 240 Seiten, 20 Euro.
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