"Es ist wahnsinnig schwer, anständig zu bleiben"

Seite 2: "Die Leute aus dem Ausland sind immer noch billiger als die Vollautomatisierung"

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Für die einen in der Gesellschaft bringt der technologische Fortschritt bessere Arbeitsbedingungen, wie etwa Home-Office während der Pandemie, und für die anderen?

Yulia Lokshina: Die Leute, die da arbeiten, sind nun mal immer noch billiger als Maschinen. Es wird ja immer wieder diese große Angst geschürt: Die Digitalisierung nimmt uns die Arbeitsplätze weg. Und dann muss man sich fragen, was sind denn das überhaupt für Arbeitsplätze, die wir erhalten wollen? Im Film sagt etwa der damalige Justiziar von Tönnies bei einer Podiumsdiskussion: "Bald sind die Arbeitsplätze weg, bald seid ihr alle weg, bald kommt die Digitalisierung." Der erstaunliche Punkt, der vielen nicht klar ist, lautet aber, dass die Leute aus dem Ausland immer noch billiger sind als die Vollautomatisierung.

Bild: Jip Film

Gibt es "hinter den Zäunen" nicht auch Leute, die sagen, das geht so nicht mehr weiter?

Yulia Lokshina: Wir haben auch mit Unternehmern gesprochen von Kleinbetrieben, mittelständischen Betrieben. Da sagte einer, der partout nicht in dem Film vorkommen wollte, es sei wahnsinnig schwer, anständig zu bleiben. Das ist kaum möglich, weil der Druck durch die großen Konzerne so hoch ist und man mitspielen muss. Du hast bestimmte Firmen, von denen du Ware abnimmst und verarbeitest, und bestimmte Firmen, an denen du sie weitergibst. Und die großen bestimmen diese Produktionsstrukturen, Produktionszwänge. Dann sagte er, auch wenn man selber bestimmte moralische Standards hat, ist es unfassbar schwierig bis unmöglich, anständig zu bleiben.

Und anständig heißt erstmal den Mindestlohn zu zahlen?

Yulia Lokshina: Offiziell wird der Mindestlohn gezahlt, also auf dem Papier, und es gibt genug Möglichkeit den Mindestlohn zu umgehen, es gibt Abgaben und Abzüge drumherum, wie die Matratzenmiete, der Transport zum Betrieb, und anständig hieße aber auch, dass man nicht mit soundso vielen Leuten auf ein Zimmern gepfercht wird, oder dass Überstunden bezahlt werden.

"Es gibt da eine Scheu vor Komplexität"

Du hast ja drei Jahre an dem Film gearbeitet. Hast du zum Mindestlohn gearbeitet?

Yulia Lokshina: Nein. Wir dürfen nichts an dem Film verdienen, weil das ein Abschlussfilm ist. Also alle, die zu dem Zeitpunkt noch studiert haben, durften gar keine Gagen bekommen. Also mit viel Idealismus, wie man so sagt. Generell sind die Produktionsstrukturen für Dokumentarfilm in Deutschland eben so, dass man kaum davon leben kann. Es gibt keine große Vielfalt in der Finanzierung. Es gibt Förderanstalten und öffentlich-rechtliche Sender, und es gibt relativ wenig dazwischen. Wenn man sich an Sender wendet und die finden das zu riskant, was oft genug passiert, da kann man eigentlich einen Film schon fast gar nicht mehr machen. Wir konnten den Film so machen, weil das mein Abschlussfilm war und eben das Team gesagt hat: Wir stehen dahinter, wir glauben daran. Wir sind bereit, da ein Risiko einzugehen.

Wer hat deinen Film gefördert?

Yulia Lokshina: Vor allem hat mein ganzes Team hat den Film gefördert, mit ihrer Arbeitskraft und mit dem Interesse und der Lust an erster Stelle. Und dann natürlich die Hochschule für Fernsehen und Film München, die Abschlussfilme anfinanziert und glücklicherweise auch der Filmfernsehfonds Bayern.

Bei den Sendern gibt es oftmals eingefahrene Wege, wie ein Film über bestimmte gesellschaftliche Themen auszusehen hat. Dieser muss bestimmte Motive haben, und die werden dann auch erwartet, etwa eine klare Opfer-Täter-Verteilung. Also wenn ich von Leiharbeitern spreche oder von Werkvertragsarbeitern, dann erwartet man Bilder, wie die da am Förderband säbeln oder wie sie in Stockbetten im Schimmel liegen. Und wenn man das nicht bietet oder gezielt vermeiden will, dann ist es mit der Finanzierung schnell gar nicht so einfach.

Es gibt da eine Scheu vor Komplexität und auch vor Erzählweisen, die andere Formen des Nachdenkens provozieren. Dabei ist es doch eine zentrale Frage: Wie erzählen wir uns von uns selber? Stattdessen setzt man lieber auf Filme, mit einer Form und Perspektive, wie es sie in oft schon gab. Ich denke, man muss die Leute, denen man was erzählen will, auch ernst nehmen und ihnen das erzählen, woran man selber glaubt. Und das ist eben dieser Versuch.

Kommende Termine in Anwesenheit des Teams:
23.10.2020 Heidelberg, Kommunales Kino mit Yulia Lokshina, Regie
23.10.2020 Berlin, Sputnik Kino mit Urte Alfs, Editorin
24.10.2020 Tübingen Arsenal & Atelier mit Yulia Lokshina, Regie
24.10.2020 Berlin Kino Krokodil mit Urte Alfs (Editorin)
26.10.2020 Berlin, Lichtblick Kino mit Yulia Lokshina, Regie

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