Estland - Der Traum von Talsinki

Besuch in dem Land, in dem die Aliens wohnen und es eine virtuelle Staatsbürgerschaft gibt

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Im Hafen von Tallinn läuft gerade die Tallink Superstar ein, ein grün-orange bestrichenes Fährschiff, das zum Tallink ShuttleService gehört, also der regelmäßigen Fährverbindung zwischen Helsinki und Tallinn. Auf einer Länge von nur 80 Kilometer trennt der finnische Meerbusen hier die Hauptstädte Estlands und Finnlands voneinander. Die Fähren sind regelmäßig ausgebucht, dienen Pendlern als Verkehrsmittel auf dem Weg zum Arbeitsplatz und Touristen als Transportmöglichkeit.

Tallinn. Bild: Steve Jurvetson/CC-BY-SA-2.0

Helsinki und Tallinn, das sind die Hauptstädte zweier Länder, die hier zusammenwachsen, die zum gleichen Kulturkreis gehören, deren Bewohner sich in Idiomen ausrücken, die zur gleichen finno-ugrischen Sprachfamilie gehören und die in der gleichen Währung bezahlen, dem Euro.

"Ich spreche nicht wirklich Finnisch, ich tue nur so", schmunzelt Sirli, die gerade von Bord geht. Die 38-jährige Krankenschwester arbeitet die Woche über in einem Hospital am Stadtrand von Helsinki. Dort bewohnt sie ein Zimmer in einem Schwesternwohnheim. Freitagabend, wenn sie keine Wochenendschicht hat, kehrt sie zurück in ihre Heimatstadt Tallinn, wo ihr Ehemann und die 2 Söhne auf sie warten. In Helsinki verdient sie rund 60% mehr als in ihrer estnischen Heimat. Die Kinder verbringen die meiste Zeit bei ihren Großeltern, da ihr Vater als Verkehrspolizist unregelmäßige Arbeitszeiten hat.

"Finnisch haben wir schon als Kinder gelernt, als Estland noch zur Sowjetunion gehörte und wir heimlich die Fernsehsender aus Helsinki einschalteten", berichtet Sirli."Die beiden Sprachen sind ungefähr so weit voneinander entfernt wie Deutsch und Niederländisch." Sirli wird von ihrer Familie stürmisch begrüßt. "Ja, es fällt uns schwer, die Woche über voneinander getrennt zu sein. Aber das ist der Preis, den wir zahlen, um uns einen höheren Lebensstandard leisten zu können, um aber auch bei dem massiv gestiegenen Preisniveau hier in Estland über die Runden kommen zu können", betont sie zum Abschied.

Talsinki lautet das Zauberwort, welches einst vom estnischen Schriftsteller Jaan Kaplinksi verwendet wurde, um das Zusammenwachsen der beiden europäischen Hauptstädte zu beschreiben. Talsinki ist heute ein geflügeltes Wort unter Politologen, Soziologen und PR-Strategen. Es ist heute aber auch gelebte Realität für zehntausende von Esten, die regelmäßig zur Arbeit in die finnische Hauptstadt pendeln oder gar ganz dort übergesiedelt sind. Rund 40.000 Esten sollen sich in den letzten Jahren in der Metropolregion Helsinki niedergelassen haben, eine nicht unerhebliche Anzahl, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Estland weniger Einwohner als Hamburg zählt, nämlich rund 1,3 Millionen.

Die estnische Regierung, welche die ökonomische und technologische Entwicklung des Landes forciert, sieht diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen, da gerade junge und gut ausgebildete Menschen das Land verlassen, vor allem aber ethnische Esten. Knapp die Hälfte der Bewohner Tallinns gehören zu der russischsprachigen Minderheit, zu der auch Staatsangehörige anderer slawischer Ex-Sowjetrepubliken gezählt werden.

Altstadt von Tallinn. Bild: Ramon Schack

In einem Hostel in der malerisch sanierten und geschichtsträchtigen Altstadt von Tallinn herrscht dichtes Gedränge. Eine Gruppe von schwedischen Studenten ist gerade mit dem FährschiffMS Romantika aus Stockholm eingetroffen. Mit professioneller Freundlichkeit verteilt Sascha Oranow die Zimmerschlüssel und beantwortet die Fragen seiner Gäste. Vier Sprachen beherrscht er bisher fließend. Neben seiner Muttersprache Russisch auch Estnisch, die Amtssprache seines Heimatlandes, sowie Englisch und Deutsch.

Sascha ist Ende 20, hat gerade sein Studium der BWL mit einem Master abgeschlossen und jobbt nebenbei an der Rezeption des Hostels. Er wurde noch in der Sowjetunion geboren und gehört zur großen russischsprachigen Minderheit, wie etwa 30 Prozent der Einwohner der baltischen Republik. Der junge Mann besitzt aber weder die estnische noch die russische, sondern nur eine "undefinierbare" Staatsbürgerschaft, wie sie im Amtsjargon des estnischen Innenministeriums bezeichnet wird. "Ich bin ein Alien", sagt er lachend und kramt zum Beweis das hellgraue Dokument mit der entsprechenden englischsprachigen Aufschrift "Aliens Passport" aus seiner Manteltasche. Aliens steht im Englischen für Ausländer, aber auch für Außerirdische, und ist deshalb in Estland so etwas wie ein"running gag" unter den Inhabern dieses Dokuments.

Knapp zehn Prozent der Bevölkerung, rund 130.000 Menschen, sind Inhaber eines solchen Passes. Im benachbarten Lettland ist deren Anteil sogar noch höher. "Durch die Osterweiterung hat die EU nicht nur einige hunderttausend ethnische Russen, sondern fast gleich viele Aliens erhalten", erwähnt Sascha vergnügt. Blau, Rot und Grau sind die Farben der verschiedenen Pässe der Mehrheit der estnischen Bevölkerung. Blau steht für den estnischen und somit begehrten EU-Pass, Rot für die Staatsangehörigen Russlands und Grau für die Staatenlosen. Daneben gibt es noch eine Minderheit von Staatsangehörigen der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, je nach dem Herkunftsland der betreffenden Personen.

Bild: CIA

Die Republik Estland wurde 1918 gegründet und verlor ihre Unabhängigkeit nach der Besetzung durch die Sowjetunion 1940. Nach der Unabhängigkeit und dem Ende der UdSSR wurde die Republik Estland 1991 neugegründet und das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1938 auf der Grundlage des Blutrechts (ius sanguinis) wieder eingeführt. Die Jahrzehnte der sowjetischen Besatzung hatten das demografische Gefüge des Landes grundsätzlich verändert. Die deutsche Bevölkerung, die gerade in Tallinn, damals Reval genannt, kulturell den Ton angab, wurde 1940 von Nazi-Deutschland im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes evakuiert. Die Estland-Schweden, die jahrhundertelang dort ansässig waren, flüchteten 1944 vor der Roten Armee, die jüdische Bevölkerung fiel größtenteils dem Holocaust zum Opfer. Durch Tötung, Massendeportationen und gesteuerte Ansiedlung von Russen aus allen Teilen der Sowjetunion sank der Anteil der estnischen Bevölkerung von 88,1 Prozent im Jahr 1934 auf lediglich 61,5 Prozent 1989. Die Auslöschung der estnischen Identität war das Ziel der Sowjets, und fast wäre ihnen dies gelungen.

Basierend auf diesen historischen Erfahrungen gehörte das estnische Staatsbürgerschaftsgesetz unmittelbar nach der Unabhängigkeit zu einem der härtesten der Welt. Insbesondere die hohen Anforderungen beim Sprachtest führten international zu Protesten und konfrontierten die junge Republik mit dem Vorwurf des Rassismus. Mitglieder der Roten Armee oder Mitarbeiter des KGB sowie deren Familien waren dabei a priori von der estnischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen.

In den vergangenen Jahren und besonders im Vorfeld der EU-Osterweiterung 2004 wurde die Einbürgerungsprozedur entscheidend vereinfacht. "Einige Mitglieder meiner Familie waren im KGB tätig", antwortet Sascha auf die Frage, warum fast 25 Jahre nach der Unabhängigkeit bisher niemand in seiner Familie einen estnischen Pass hat. "Später kamen finanzielle Gründe und die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung hinzu", ergänzt er. Inzwischen ist er darum bemüht, den blauen Pass zu erwerben. Zusammen mit seinem Kommilitonen Roman hat er sich gerade die notwendigen Dokumente aus dem Internet heruntergeladen.

Fischereihafen von Tallinn. Bild: Ramon Schack

Roman ist ein "Roter", also russischer Staatsangehörigkeit. "Nein, richtig zu Hause fühle ich mich hier in Estland nicht. Esten und Russen sind doch zwei völlig verschiedene Völker und haben eigentlich nur wenig gemeinsam", antwortet Roman auf die Frage nach der Motivation für den Erwerb des estnischen Passes. "Wir sind so etwas wie 'Euro-Russen', deshalb möchten wir auch die Chancen und Rechte eines EU-Bürgers erhalten, Reise-und Niederlassungsfreiheit eingeschlossen." Sascha ergänzt: "Ich war noch nie im Ausland; wegen meiner 'undefinierbarenStaatsangehörigkeit' ist selbst ein Visum für Russland eine komplizierte Angelegenheit."

Ungefähr ein Jahr würde es bis zum Erhalt des estnischen Passes dauern. Zuerst ist der Sprachtest zu absolvieren, dann eine Prüfung über Landes-und Verfassungskunde zu bestehen. Schließlich würden die Behörden noch einige Monate benötigen, um die formalen Anforderungen der Antragsteller - die estnischer Herkunft oder mindestens fünf Jahre im Lande ansässig sein müssen - zu überprüfen. Einige hundert Euro dürfte das die beiden jungen Männer kosten. "Eine ganze Menge Geld, ungefähr die Hälfte unseres Monatsgehalts. Aber langfristig eine gute Investition", stellen die beiden übereinstimmend fest.

Integration, die Erlangung der estnischen Staatsbürgerschaft und vor allem die Reduzierung der Staatenlosigkeit gehören zu den größten Prioritäten der estnischen Regierung. Bisher sind die Integrationserfolge bescheiden. Die Thematik gewinnt aber eine Brisanz. Seit dem Konflikt des Westens mit Russland um die Ukraine, fürchten einige Esten, die russische Minderheit könnte als eine 5. Kolonne von Moskau instrumentalisiert werden.

Rauno in seinem Café. Bild: Ramon Schack

"Nein, ich habe überhaupt nichts gegen Russen!", betont Rauno, während eines Gespräches in seinem Café Fischernetz. "Ich selbst habe russische Freunde oder Esten russischer Ethnizität", korrigiert er sich. Das Café liegt im alten Fischhafen Kalasadam, nur wenige Gehminuten von der Altstadt entfernt. Angler halten ihre Ruten ins Meer, Passanten flanieren vorbei. Die alten Häuser um den Hafen werden zunehmen von postmodernen Appartementblocks bedrängt, die hier wie Pilze aus den Boden schießen.

Rauno, Anfang 30, verheiratet und Vater von 2 Kindern, organisiert von hier aus auch Ausflüge per Boot auf die Insel Naissaar. "Trotz aller Unsicherheiten bin ich gerne selbstständig. Früher habe ich als Kellner auf der Fähre nach Helsinki gearbeitet, da habe ich auch nicht mehr verdient." Rauno sieht die Integration der russischsprachigen Minderheit nicht als das größte Problem Estlands. Viel eher besorgt ihn der Preisanstieg. "Unsere Regierung hatte uns versprochen, mit der Einführung des Euros werde es keine Erhöhung der Preise geben. Aber schauen Sie sich doch in den Geschäften um. Die Lebensmittel kosten so viel wie bei Euch in Deutschland, aber das Durchschnittseinkommen liegt bei nur 800 Euro."

Rauno baut auf den wachsenden Tourismus, sieht aber mit Sorge, wie das Leben in Tallinn für die Durchschnittsbürger immer unerschwinglicher wird. "Uns bleibt als kleines Land gar nichts anderes übrig, als innovativ zu bleiben. Hier in Estland haben wir Skype entwickelt, wir sind das internetfreundlichste Land der Welt, was ich begrüße.Wir sollten dabei aber nicht unsere Identität verlieren!"

Hardy. Bild: Ramon Schack

Am Stadtrand von Tallinn steigt Hardy aus einem Linienbus. Hardy, ein junger Wehrpflichtiger in Uniform, der aus einem Dorf im Süden, in der Nähe der lettischen Grenze, stammt, befindet sich auf dem Weg in seine Kaserne, inmitten eines idyllisch gelegenen Viertels von windschiefen Holzhäusern. "Bei uns im Dorf gehen langsam die Lichter aus", berichtet Hardy. "Alle wollen nach Tallinn oder gleich ins Ausland. Wohin soll das nur führen. Estland braucht doch auch Landwirte und Krankenschwestern, nicht nur IT-Spezialisten."

Hardy wurde nach der Unabhängigkeit Estlands geboren, sein Vater diente in der Roten Armee der Sowjetunion, sein Großvater war ein sogenannter Waldbruder, also ein Partisan, der gegen die Sowjets kämpfte. Der Widerstand der Waldbrüder in Estland, Lettland und Litauen, was im Westen unbekannt ist, hielt noch Jahrzehnte nach der Okkupation durch die Rote Armee an. Die dichten Wälder des Baltikums waren das Rückzugsgebiet der Waldbrüder, daher ihr Name. Der letzte Waldbruder in Estland wurde erst 1978 erschossen. Dieser Krieg forderte Tausende von Opfern.

"Und ich diene heute in der estnischen Armee, unter dem Oberbefehl der NATO!", so Hardy lachend. "Ich wünsche mir, dass der Westen und Russlandeine Einigung finden", sagte er zum Abschied, bevor er sich auf den Weg in seine Kaserne machte.

Zurück ins Stadtzentrum. Jenseits der Altstadt schießen neue Hochhäuser in den Himmel. Tallinn boomt. Von allen ehemaligen Sowjetrepubliken verfügt Estland heute über den höchsten Lebensstandard, wenn dieser auch ungleich verteilt ist. Orientierte sich die Gesellschaft in der Transformationsphase nach radikal-liberalen Wirtschaftsmodellen, hat inzwischen eine leichte Hinwendung zum Sozialstaatsmodell skandinavischer Prägung stattgefunden, besonders seit der Bankenkrise 2008.

In einem Bistro im Viru-Center, dem größten Einkaufszentrum Estlands, trifft sich Ann Rune mit ihrem Ehemann Henn. Ann ist 33 Jahre jung, stammt ursprünglich aus Tallinn, lebt aber seit einigen Jahren in der altehrwürdigen Universitätsstadt Tartu, rund zwei Autostunden südlich von der Hauptstadt entfernt. Das junge Ehepaar hat drei Kinder. Ann, die früher im Management tätig war und heute Hausfrau ist, möchte gerne wieder ins Berufsleben zurück. Ihr Mann arbeitet als Landschaftsarchitekt.

"Möchtest Du nicht auch die estnische Staatsbürgerschaft beantragen?", fragt sie den Besucher aus Deutschland scherzhaft. Ann bezieht sich auf die neueste Erfindung der estnischen Regierung, wonach seit Dezember letzten Jahres Ausländer eine virtuelle estnische Staatsbürgerschaft beantragen können. Diese E-Residency, wie diese Staatsbürgerschaft genannt wird, erlaubt es Menschen mit oder ohne existierende Verbindung zu Estland, das breite Spektrum an E-Government-Dienstleistungen und Onlineservices in Anspruch zu nehmen, für die das Land international gelobt wird. Im Gegensatz zu herkömmlichen Staatsbürgerschaften bietet die virtuelle Variante kein Wahlrecht, keinen Reisepass, auch keine Aufenthaltsgenehmigung.

"Der Premierminister Japans hat auch schon so eine estnische Staatsbürgerschaft", fügt Henn hinzu. "Ich finde die Idee nicht schlecht. Wir sind eine kleine Nation und brauchen neue Ideen. Warum sollten wir unsre digitalen Vorteile nicht als Exportgut verwenden?" Ann und Henn sind sich darüber im Klaren, dass sie einen viel höheren Lebensstandard als ihre Eltern zur Zeit der Sowjetunion genießen, von den Möglichkeiten zum Reisen und der individuellen Lebensgestaltung ganz zu schweigen. "Manchmal frage ich mich aber, wohin diese Entwicklung uns noch führen wird. Meine Eltern beispielsweise konsumieren enorm. Die haben noch immer Nachholbedarf aufgrund ihres Lebens in der UdSSR. Aber macht denn Besitz immer nur glücklich? Ich bin auf jeden Fall dabei, meine Kinder anders zu erziehen", erklärt sie am Ende des Gespräches. "Vielleicht liegt die Zukunft ja wirklich in Talsinki", ergänzt Henn. "Hier im Nordosten haben wir den Traum von einem geeinten Europa noch nicht ausgeträumt!"