Europa: Weniger Schengen-Freiheit, mehr Grenzkontrollen
EU-Ratsvorsitz: Macron will mehr Souveränität für Nationalstaaten und ihnen die Abschottung erleichtern
"Schengen" reformieren heißt der neue Europa-Plan von Emmanuel Macron. Den EU-Mitgliedstaaten soll es künftig erleichtert werden, in "Krisenzeiten" wieder nationale Grenzkontrollen einzuführen.
Nachdem öfter zu hören ist, dass die gegenwärtige Corona-Krise, bei der Grenzschließungen ein Dauerthema waren, nur der Auftakt für eine ganze Reihe neuartiger Krisen sein könnte, sind Risiken wahrscheinlich, dass sich Ausnahmen verfestigen (vgl. auch Verzweiflung sorgt für Tote an Grenzen im "Europa ohne Grenzen" ). Der "Zeitgeist" bewegt sich gerade nicht in Richtung "mehr Freiheiten", anders als bei der Schaffung des Schengen-Raums.
Die Reformideen zur EU-Grenzpolitik lauten: Bei den Grenzkontrollen sollen mehr Daten abgefragt werden und insbesondere an den EU-Außengrenzen, wo es um die Abwehr von "illegalen Migranten" geht, sollen sie verschärft und ausgebaut werden. Die Mittel der Grenzschutzagentur Frontex sollten erneut aufgestockt werden.
Das geht aus Voraberklärungen hervor, die Macron anlässlich des Beginns der französischen EU-Ratspräsidentschaft mitgeteilt hatte. Der Mann, der sich von seinem Wahlsieges 2017 an immer mit zwei Flaggen, der französischen und der europäischen, präsentierte und vom altehrwürdigen Champion der europäischen Intelligenzia, Jürgen Habermas, als einziger europäischer Impulsgeber-Politiker weit und breit mit Visionen dargestellt wurde, macht sich also an ein Essential der EU: das Schengener-Übereinkommen mit seinem Versprechen "freie Bewegung für freie Bürger".
Morgen treffen sich die 27 EU-Innenminister informell. Gut wäre es, auf der Suche nach gemeinsamen Lösungen in Migrationsfragen voranzukommen, so der Ausblick der EU-Innenkommissarin Ylva Johannson. Auf der Tagesordnung der französischen Ratspräsidentschaft stehen "Krisenmanagement in Europa", "Radikalisierung" und "Erkenntnisse aus den aktuellen Entwicklungen in Afghanistan und Belarus für den Grenzschutz und die Migrationssteuerung".
Heute Nachmittag besucht Macron die informell versammelten Innenminister in Tourcoin (bei Lille), im palaisartigen Ratshaus (die Parkplätze wurden geräumt), um ihnen seine neuen Pläne zu den europäischen Grenzen und der Migration zu erläutern – "Chefsache".
Der Impulsgeber hat sich noch nicht offiziell als Kandidat für die französischen Präsidentschaftswahlen im April erklärt, aber macht dauernd schon Wahlkampf. Mit seinen Schengen-Reformplänen gräbt er an Stellen, die eigentlich die rechte Konkurrenz beackert: mehr Souveränität für Nationalstaaten an den Grenzen, mehr Abschottung. "Ein souveränes Europa ist vor allem - und das ist für mich der primäre Aspekt - ein Europa, das seine Grenzen kontrollieren kann", sagt Macron.
Es gehe um zwei Gesetzesvorschläge, berichtet Le Monde, die Paris gerne bis zum Ende der Ratspräsidentschaft (Ende Juni) verabschiedet hätte. Frankreich will die "Schengen-Inspektionen" verstärken und zum zweiten den "Schengener Grenzkodex" reformieren, "damit das Instrumentarium, das die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen erlaubt, dauerhaft und verstärkt im Krisenfall eingesetzt" werden könne.
Zudem möchte Macron ein Gremium aus Regierungsmitgliedern der Mitgliederstaaten schaffen, das im Falle einer größeren Krise an den Außengrenzen schnelle, verbindliche Entscheidungen treffen kann. Diese Idee sollen Mitglieder seines engeren Kreises übermittelt haben. "Diese Baustellen gehen einher mit der Unterstützung für die Aufstockung des Personals von Frontex", wird ergänzt.
Am Sonntag hatte die Welt darüber berichtet, dass Paris eine Einigung der EU-Staaten zum Screening von Migranten möglichst in den nächsten Wochen durchsetzen will.
Dabei geht es um einen Vorschlag der EU-Kommission, dass Migranten direkt nach der Ankunft eine Sicherheitskontrolle und Identitätsprüfung durchlaufen sollen, bei der Datenbanken abgefragt werden und biometrische Daten erfasst und "für Jahre in der Datenbank Eurodac gespeichert werden.
Dazu soll eine medizinische Untersuchung und eine erste Prüfung der Schutzbedürftigkeit stattfinden. Eine Einigkeit darüber bei den Innenministern ist im Gegensatz zum anderen großen europäischen Migrationsthema neben der Abschottung, nämlich der begrenzen Aufnahme, nicht absehbar.
Die "Koalition der Willigen bei der Verteilung von Migranten" bleibt überschaubar klein. Es sieht nicht danach aus, als ob sich bei den Unwilligen Grundsätzliches ändert.