"Europa darf jetzt nicht zerbrechen"

Seite 2: "Es kann nicht sein, dass die ohnehin sozial schwierigen Stadtteile wieder einmal die Hauptlast tragen"

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Der Bürgermeister hat im Oktober einen Flüchtlingskoordinator ernannt...

Marcus Weinberg: ...den wir bereits lange zuvor gefordert hatten.

Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit Anselm Sprandels?

Marcus Weinberg: Ich nehme ihn kaum wahr. Das große Problem: Ihm fehlen die Kompetenzen wie die haushaltstechnischen Möglichkeiten, um etwas nachhaltig bewegen zu können. Zudem leidet er darunter, dass der Senat keinen langfristigen verbindlichen Integrationsplan verfolgt. Daher meine Forderung: Hamburg braucht eine Integrationsbehörde. Angesichts der dramatischen Flüchtlingszahlen und der damit verbundenen Herausforderungen für unsere Stadt, ist es dringend erforderlich, dass wir einen zuständigen Senator oder Staatsrat haben, der sich rund um die Uhr mit dem Thema Integration befasst. Das Klein-Klein in der Integration sowie die ständigen Kompetenzrangeleien sind problematisch und müssen beendet werden.

Halten Sie derlei etwa für realistisch?

Marcus Weinberg: Keine Behörde gibt gern Kompetenzen ab, klar. Ich bin allerdings überzeugt, dass es uns ohne eine Bündelung der Kompetenzen aus verschiedenen Ressorts nicht gelingen wird, diese Mammutaufgabe zu bewältigen. Wir müssen jetzt in der Integration verbindlicher werden und Maßnahmen klarer und gebündelter organisieren. Ich habe eine solche Integrationsbehörde bereits 2010 gefordert, damals war das Echo zugegebenermaßen bescheiden. Das hat sich inzwischen geändert.

Warum sind Sie sich da so sicher?

Marcus Weinberg: Weil die Situation eine komplett andere ist. Der Zustrom an Flüchtlingen hat in den vergangenen Monaten alle anderen Themen in den Schatten gestellt. Jetzt müssen die Weichen gelegt werden. Wer hat vor wenigen Jahren damit gerechnet, dass wir so schnell eine solche Zuspitzung erfahren? Die Politik muss in diesem Feld vorausschauender agieren. Olaf Scholz handelt lediglich dann, wenn es beinahe nicht mehr anders geht und der Druck zu groß wird. So wird eine vernünftige nachhaltige gesellschaftliche Integration nicht gelingen.

Haben Sie ein Beispiel parat?

Marcus Weinberg: Der Bürgermeister hat es verpasst, die Vertreter der Stadtgesellschaft, der Politik und alle anderen Akteure frühzeitig an einen Tisch zu holen. Er hat es insbesondere versäumt, die vom Neubau von Unterkünften betroffenen Bürger auf Augenhöhe mitzunehmen. Erst jetzt, als er bemerkt, dass die Bürger sich organisieren und vehement gegen Großunterkünfte stellen, bietet er plötzlich Gespräche an. Das passt leider ins Bild.

Ihre Partei unterstützt die Initiative "Hamburg für gute Integration", deren Ziel es ist, die geplanten Großunterkünfte in allen Bezirken zu verhindern. Dennoch sind Sie gegen einen Volksentscheid in dieser Frage - warum?

Marcus Weinberg: Ich unterstütze das grundlegende Anliegen der Initiative, Großunterkünfte in den Bezirken zu verhindern. So wie der Senat sich das vorstellt, kann Integration nicht gelingen. Und so wie der Senat mit den betroffenen Menschen umgeht, kann er auch keine Unterstützung erwarten. Ohne eine breite und vor allem ernst gemeinte Bürgerbeteiligung funktioniert die Umsetzung nicht. Ziel muss es doch in den kommenden Wochen sein, dass wir gemeinsam mit der Initiative eine Lösung erarbeiten. Aber das heißt dann auch, dass die Initiative kompromissbereit sein muss.

Herr Sprandel twitterte kürzlich: "Die Forderungen der Volksinitiative können dazu führen, dass Flüchtlinge in Zukunft bei uns im Freien übernachten müssen."

Marcus Weinberg: Solche Kommentare helfen nicht und zeigen mehr Hilflosigkeit statt konstruktive Lösungsansätze. Herr Sprandel sollte lieber die Sorgen der Menschen ernst nehmen und mit der Initiative und allen politisch Verantwortlichen reden.

Der Senat rechnet in diesem Jahr mit weiteren 40.000 Flüchtlingen. Was ist falsch daran, wenn Olaf Scholz sagt, eine gleichmäßige Verteilung auf alle Stadtteile sei unter den gegebenen Umständen nicht umsetzbar?

Marcus Weinberg: Ich halte nichts von pauschalen Aussagen in dieser Frage. Der jeweils einzelne Standort muss bewertet werden. Aber es kann natürlich nicht sein, dass die ohnehin sozial schwierigen Stadtteile wieder einmal die Hauptlast tragen. Die Menschen gerade in Stadtteilen wie Billstedt oder Wilhelmsburg haben schon besondere Herausforderungen bei der Integration zu leisten. Ich will nicht, dass man am Ende dort wieder alles ablädt, nur weil der Widerstand dort möglicherweise der geringste ist.

Soll heißen?

Marcus Weinberg: Die Bürger in Hamburg wollen helfen und ärgern sich zurecht, wenn man ihnen immer nur unabgestimmte Ergebnisse vorsetzt. Diese Basta-Mentalität nervt die Hamburger. Der Senat konterkariert die Hilfsbereitschaft dieser Menschen, wenn er ihnen Großunterkünfte ohne Bürgerbeteiligung direkt vor die Haustür setzt. Dieses Verhalten führt zu grundsätzlichem Misstrauen in die Politik und zur Ablehnung. Und genau das können wir in der jetzigen Lage nicht gebrauchen.

Wie lautet denn Ihr Alternativvorschlag?

Marcus Weinberg: Wir brauchen eine offene und klare Kommunikation mit den Bürgern und eine breite Bürgerbeteiligung bei der Errichtung der Unterkünfte. Zudem benötigen wir eine klare Regelung der politischen Zuständigkeiten des Themas Integration im Senat, und zwar mit entsprechenden Ressourcen. Und wir brauchen verbindliche Regeln der Integration sowie endlich ein Integrationsgesetz.

Apropos, wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass es gelingt, unbegleitete Minderjährige zu integrieren, wenn ebenjene Vater und Mutter nicht nachholen dürfen? Das Asylpaket II, dem Sie vor wenigen Tagen im Bundestag zugestimmt haben, sieht ja unter anderem vor, den Familiennachzug für Menschen mit eingeschränktem Schutzstatus auszusetzen.

Marcus Weinberg: Wir mussten bei dieser schwierigen Frage Gefahren und Chancen abwägen. Klar ist: Die Integration gelingt schneller, wenn der familiäre Rückhalt vorhanden ist; die Stabilität der Familie ist ein positives Element bei nahezu allen Integrationsbemühungen.

Aber?

Marcus Weinberg: Wir haben die große Sorge, dass Schlepper gezielt Familien mit Kindern ansprechen und diese Kinder nach Deutschland über einen lebensgefährlichen Weg locken. Und das passiert bereits. Dass die Schlepper den Familien sagen: "Wenn Ihr Eure Kinder nach Deutschland schickt, werdet Ihr nachgeholt." Das Risiko, eine neue Flüchtlingswelle von Kindern auszulösen, wäre zu groß. Im Übrigen wird durch diese Regelung nur eine kleine Gruppe betroffen sein.

Herr Weinberg, in Hamburg leben zurzeit etwa 38.000 Geflüchtete, das sind etwa zwei Prozent der Einwohnerzahl. Wie viele Menschen kann eine Stadt wie Hamburg in einem Jahr integrieren?

Marcus Weinberg: Ich kann keine konkrete Zahl nennen. Das wäre unredlich. Die Stadt hat in der Vergangenheit aber bewiesen, dass sie eine hohe Integrationsleistung erbringen kann - denken Sie an die großen Migrationsbewegungen aus Osteuropa oder aus der Türkei und den anderen südeuropäischen Staaten. Aber das waren auch Prozesse, die nicht alle komplett problemfrei verliefen. Im Gegenteil: Die Gesellschaft in Hamburg hat sich in den vergangenen Jahren bereits insgesamt verändert - in einigen Stadtteilen gravierend. Wir müssen aufpassen, dass diese Stadtteile nicht ganz kippen. Das Gespenst von Parallelgesellschaften ist in gewissen Gebieten bereits Realität. Ich mache mir da große Sorgen.

Wie meinen Sie das?

Marcus Weinberg: Wir haben in einigen Stadtteilen Gebiete in denen unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung in Teilen nicht mehr funktioniert, wie wir uns das vorstellen. Ich sehe die Gefahr der Verstetigung und Ausbreitung dieser Parallelgesellschaften. Deshalb setzen wir uns dafür ein, die Flüchtlinge möglichst kleinteilig über die ganze Stadt zu verteilen und das Thema Integration zu bündeln.

Hamburg ist nicht nur die schönste Stadt der Welt, sondern auch die vielfältigste. Das wollen wir bewahren. Deshalb appelliere ich an die SPD, die Türen im Rathaus endlich zu öffnen und das Gespräch zu suchen mit den Betroffenen, mit allen Parteien und mit den Akteuren unserer Bürgergesellschaft. Mögliche Fehler von heute werden jahrzehntelang wirken.