Europa ist erledigt

Gespräch mit Marvin Minsky

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"Als Menschheit sind wir ziemlich dumm", sagt Marvin Minsky. "Und wir werden auch keineswegs klüger. Schauen Sie sich nur an, was Aristoteles oder was Shakespeare vor Hunderten von Jahren geschrieben haben - und die Bücher, die heute gedruckt werden."

Denkt man an sich selbst und die eigenen Werke, ist man versucht, ihm recht zu geben. Wäre da nicht Marvin Minsky - der lebende Beweis dafür, daß er unrecht hat.

"Meine größte Furcht ist", sagt er, "daß die Mehrheit der Menschen einfach dekretiert, so wie's ist, sei's gut. Laßt uns so bleiben, laßt uns den Weg in die Posthumanität nicht beschreiten."

Den pseudo-optimistischen Einwand, der Durchschnittsmensch sei unglücklich und sollte sich deshalb geradezu nach Veränderung sehnen, wischt er mit einer Geste beiseite. "Unglücklich vielleicht. Aber doch gewohnt, das zu tun, was er tut. Die Mehrheit will sich und ihr Leben nicht ändern."

Die Extropianer hingegen seien zukunftssüchtig, und deswegen fühle er sich in ihrer Gesellschaft wohl.

"Die einzige andere Gruppe, die ich neben ihnen kenne, die sich so tiefgehend mit der Zukunft beschäftigt, sind die Science-Fiction-Schriftsteller. Aber denen kommt es nicht darauf an, am Ende recht zu behalten. Den Extropianern hingegen geht es nicht um das Spiel mit der Zukunft, sondern um Wahrheit und Wirklichkeit."

Minsky ist ungeduldig, mit sich selbst und mit dem Rest der Menschheit. Er hat mehr Rätsel gelöst und mehr Maschinen erfunden als die meisten seiner Professorenkollegen. Die Patente haben ihn wohlhabend gemacht. Doch er wird alt, und das Problem, das ihn beschäftigt hat wie kein anderes, die künstliche Intelligenz, ist ungelöster denn je. Er bräuchte Zeit, aber die fehlt ihm.

Am Ende des Podiumsdiskussion ist Eric Drexler erschienen, ein Armkettchen in der Hand haltend. "Ich möchte unter keinen Umständen", hat er gesagt, "1000 Jahre in der Zukunft damit vergeuden, allen möglichen Leuten zu erklären, warum ich es erlaubt habe, daß mein brillanter Lehrer einfach gestorben und für immer von der Erde verschwunden ist." Und hat Marvin Minsky, der seine Tränen nur hinter Schroffheit verbergen konnte, eine Urkunde und die Kette mit den bekannten Notfallanweisungen überreicht: "Im Todesfall siehe Rückseite für Biotesis-Protokoll. Verabreiche a -1484. Bitte anrufen und nach weiteren Instruktionen fragen. 5000 u heperin spritzen und CPR machen, während Körper mit Eis auf zehn Grad Celsius gekühlt wird. pH bei 7.5 halten. Keine Autopsie! Keine Einbalsamierung!"

"Technologie gibt uns mehr Freiheit", sagt Marvin Minsky nun. "Wir müssen sie umarmen, statt sie zu fürchten."

Ob das nicht ein sehr amerikanischer Gedanke sei?

"Und ein sehr koreanischer Gedanke", sagt er spottend. "Nicht zu vergessen, ein sehr japanischer Gedanke, ein ..."

"Aber kein besonders europäischer Gedanke", unterbreche ich ihn.

"Ha!" sagt Marvin Minsky, als habe er sich schon gedacht, daß ich ihm damit kommen würde. "Ich habe kein Gefühl für Europa, ich verstehe diese Leute und ihre Litaneien einfach nicht." Er springt auf und greift nach allem, was er zuvor auf dem Tisch verstreute. "Europa ist Geschichte, erledigt", ruft er, schon wieder auf dem Weg zum Flughafen. "Das können Sie mir glauben. Die Neuordnung des Kontinents und der Euro werden daran auch nichts ändern."

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