Europas Dilemma: "Ban the bomb" war gestern
Frühling 2023: Westliche Ambitionen in der Sackgasse. Die Grüne Heimatfront empfiehlt: Wärmepumpen und mehr Munition. Ein idealistischer Bellizismus macht sich breit.
Frühling, die Osterglocken riefen zu freudigen, sonntäglichen Gefühlen. Doch ein unermeßliches Grab gähnte in der Welt.
Iwan Bunin: Verfluchte Tage. Revolutionstagebuch 1919. Deutsche Ausgabe 2008
Das Unmögliche ist also doch möglich geworden, nein, gemacht, gewollt worden. Es ist Krieg. (…) Wie wenig es auf das Denken und Handeln des Einzelnen anzukommen scheint!
Ute Guzzoni: Über Natur. Fermenta philosophica. Freiburg 1995
Noam Chomsky, einer der weltweit meistgelesenen Autoren zur US-Außenpolitik, dessen Beiträge zum Teil auch bei Telepolis erschienen, hat in einer Streitschrift mit dem Titel "Hegemonie oder Untergang. Amerikas Streben nach Weltherrschaft" ("Hegemony or Survival") bereits 2003 in gewohnter Entschlusskraft den US-Mythos bloßgelegt. 2017 erschien das Buch auf Deutsch.
Dies wird hier besonders hervorgehoben, weil es der imperialen Strategie des "großen Bruders" anhand mehrerer Beispiele auf den Grund geht – unter anderem anhand des Irak-Debakels. Man staunt immer wieder aufs Neue, wie es gelingt, die Ansprüche des rücksichtslosesten Gewaltmonopols hinter publikumswirksam ausgegebenen Zielsetzungen zu kaschieren, die – jedenfalls auf öffentlicher Bühne – ein humanistisches Gewand tragen.
Die wahren, von den Politgrößen, Industriebossen und Militärbefehlshabern geschriebenen Drehbücher sehen anders aus.
Der nordamerikanische Weißkopfseeadler gibt in dieser Hinsicht keine bessere Figur ab als Europas Stier, der nicht nur aus Meereswogen steigt, wie die bekannte Sage es will, sondern aus Strömen von Blut, was gern als vergangen und vergessen angesehen wird. Spricht jemand das bittere Erbe aus, nicht in frommem Schuldbekenntnis, sondern als Macht- und Gegenwartsbezug, erntet er schnell sorgen-, aber auch vorwurfsvolle Blicke.
Unversehens werden "Betriebsunfälle" der Geschichte – so Weltkrieg I und Weltkrieg II – zum Tabu im Gespräch, das Böse wird ganz woanders verortet. Nach dem letzten Krieg erfand Europa sich als Musterknabe neu.
Europas stürzende Linien
Nur Pech, dass Chroniken und Annalen so nachtragend sind. Wir begegnen am Ende des faustisch-abendländischen Wegs einer trüben Sackgasse, einem sich selbst verzehrenden Kreislauf, stockenden Idealen, denen keine Kraft mehr zukommt, über sich selbst hinauszuweisen. Das alles gebärdet sich bellizistisch, pseudolegal, alternativlos.
Humanitäre Beteuerungen müssen tausendmal wiederholt werden, um glaubhaft zu klingen. Dabei gab und gibt es in Europa in besonderer Weise mehr als reichlich Anlass und Gelegenheit, friedliebenden Werten die gebührende Achtung zu schenken, das Humanum zur Pflicht zu machen, die Ethik des Miteinander zur bedingungslosen Norm.
Das zivilisatorische Projekt hat Zeit gehabt, sich zu beweisen. Und mündete in stürzende Linien, in eine Entlarvung dessen, was Hegel noch "Vernunft in der Geschichte" nennen mochte.
Man könnte Europa als den Erdteil bezeichnen, der auf die auffälligste Weise Verrat an den eigenen Werten geübt hat, zu denen einst die Idee der Polis und die Forderung der Feindesliebe gehörte. Wo sonst auf Erden hätte man den Beweis antreten können? Rühmt sich doch die abendländische Kultur nach eigenem Bekunden der Abkunft aus zwei zivilisatorischen Projekten, Antike und Christentum (der sog. christlichen Kulturtradition).
Mission "Horizons": Blick in den Abgrund
Der deutsche Astronaut Alexander Gerst ("Astro-Alex") konnte die Erde aus dem Weltall betrachten, was ihn zu der Feststellung veranlasste, dass man von da oben wohl Kontinente und Länder, nicht aber die Grenzziehungen der Menschen sehen kann. Was er aber aus 400 Kilometern Distanz beobachten konnte, waren in verschiedenen Regionen die Einschläge von Raketen, Bomben, Granaten. Er beschrieb das als absurd. Das war zuletzt 2018 so, auf seiner zweiten Mission "Horizons"
Heutige Grenzen – das Resultat von Kriegen. Ein Blick in den Abgrund. Die Lebens- und Wohnplätze der Menschheit, genannt Nationen – mit Tod und Tränen erkauft. Und schlimm: Europa definiert sich gerade in Abgrenzung und Frontstellung gegen Russland (vorübergehend dachte man, es ginge gemeinsam; ein Irrtum nach gegenwärtigem Stand) und offenbart auf seine Art einen geradezu fatalen Identitätszwang (Guzzoni). Denn siehe da, das Bewältigenwollen, das In-den-Griff-Bekommen, greift zu Mitteln, denen man glaubte, auf Dauer abgeschworen zu haben.
Wladimir Putins Agieren, sein Barbarismus, die Art der Manifestation seiner Gewalt ist sicher eine Form "furchtbarer Ursprünglichkeit" (nach einem Ausspruch von Walter Benjamin); das lässt sich weder politisch noch psychologisch, noch auch geostrategisch hinreichend aufdröseln – und spiegelt doch das jahrhundertealte Macht- und Gewaltpotenzial westlicher Provenienz, zusammen mit der Doktrin universeller Herrschaftsansprüche.
Die Uneinlösbarkeit der Ideale
Das Reich der liberal-säkularen Post-Historie ist so wenig das Reich, von dem die frühen Christen am Ausgangspunkt Europas zu sprechen wussten, wie es die widerwärtigen "Reiche" der großen "Führer" waren oder je sein könnten.
Die modernen westlichen Seefahrer haben die Wahl zwischen Skylla und Charybdis – ein fatales Gespann zweier Ungeheuer aus Homers Odyssee, die in der Passage von Messina auf Beute lauern. Niemand möchte das Dilemma gern eingestehen. Wir alle sind getrimmt auf Erfolge, Lösungen, Kontrolle über den eigenen Entwurf.
Das "Europäische Haus", das nach dem Kalten Krieg als Projekt ausgegeben wurde und mit dessen Errichtung manche Protagonisten die Geschichte des Blockdenkens zu beenden hofften, definiert sich gerade, angesichts der Uneinlösbarkeit der Ideale, erneut als Waffenhaus und Kriegsmaschinerie. Der alte Adam, der totgeglaubte Mensch, tritt erneut auf den Plan.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), zuletzt im Interview während seines Ukraine-Besuchs (begleitet von deutschen Firmenlenkern, Verbandschefs und Industriekapitänen), schämt sich "zutiefst" für zu späte Waffenlieferungen. Es folgt der Ordo-Gedanke: Wer Frieden will, so Habeck, müsse eine Ordnung wollen, die den Frieden garantiert.
Das klingt eingängig, kommt aber irgendwie neunmalklug rüber und formuliert im Kern die Hoheitsansprüche einer Friedensordnung mittels Waffengewalt. Bei genauem Hinsehen erweist sich sein Auftritt als Komplizenschaft mit US-Weltmachtinteressen und der Euphorie der Rüstungskonzerne. Das haben wir verstanden: Frieden wird gesehen als eine Funktion von Feuerkraft.
"Dieser wollende Mensch"
Anders gesagt: Hinter der Fixierung des Westens auf eine militärische Lösung steht die Ratio des Bestehenwollens – der imperialen Lebensform, gestützt durch Militär- und Fortschrittsideologie.
Ihr dient "Aufklärung" als Feigenblatt. Wohlstand bleibt der Götze. Unser way of life, diese Lüge der Zivilisation, gehorcht weiterhin nicht der Vernunft, dafür aber der Kapitallogik, die von der gegenwärtigen Ampelregierung, mittels Umweltreligion in eine neue Form gegossen, als wohltätiges Zukunftsprojekt ausgegeben wird. Das ist nicht nur ein Trick; auch manch weitaus radikalere Fragestellung bleibt auf der Strecke.
In Wahrheit entgleitet dem homo politicus die historische Praxis ein weiteres Mal. Dazu ist es nicht unbedingt nötig, den Blick aus dem Kabinenfenster der ISS zu werfen. Ute Guzzoni, emeritierte Professorin für Philosophie an der Universität Freiburg, hilft, auch so den Blick zu weiten, und mahnt:
Es geht um etwas Grundsätzlicheres, nämlich um das heutige menschliche In-der-Welt-sein als ganzes (…). Angesichts der kritischen Situation unserer Gegenwart stellt sich (…) die Frage, ob der Mensch, der gesellschaftliche, sich in einer bestimmten Weise definierende und wollende Mensch unserer Jetztzeit, weiter bestehen kann.
Ute Guzzoni: Über Natur (Fermenta Philosophica), Freiburg 1995
Das war 1995, eine ganze Weile vor dem Ukraine-Krieg.
Die Frage, die bei Guzzoni zum Vorschein kommt, ist hier nicht wie, sondern ob dieser wollende Mensch weiter bestehen kann. Die im Politischen wurzelnde Lebenspraxis hat sich in eine Lage manövriert, in der man sich genötigt sieht, zur Erhaltung und Durchsetzung seiner selbst (des Bestandes) zu Mitteln zu greifen, die mit den ausgegebenen Zielen (Ethos, übergreifendes Recht, ideeller Raum) im eigentlichen Sinne unvereinbar sind.
Diese Konfrontation – letztlich mit sich selbst und dem eigenen Entwurf – ist substanzieller Art. Das eigene Handeln stößt unübersehbar an Grenzen. Somit ist auch die Frage der Identität berührt, als Fragestellung des vorherrschenden und "sich wollenden" Selbstverständnisses im Zusammenhang mit der "enge(n) Zugehörigkeit zur ideologischen Gruppe des Westens", wie Roland Bathon es gerade treffend ausgedrückt hat.
Hierzu nochmals Guzzoni, die resümierte: "An unsere Grenze zu kommen, heißt auch, zu uns selbst zu kommen" (U.G., Erfahrungen und Reflexionen, 2012).
Junge Bellizisten und die Frage: Ban the bomb?
Aber ob das gelingen mag? Einiges spricht dagegen. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin konstatierte unlängst, wie sich unter den Jüngeren ein "idealistischer Bellizismus" verbreitet. Diese Generation befinde sich "mittendrin zwischen Kissinger und Baerbock"; und stellt sogar kalte Krieger wie Henry Kissinger oder Zbigniew Brzeziński noch in den Schatten.
Es gab sie mal und gibt sie immer noch, die Ostermärsche für den Frieden. Der weltweit erste "große" Ostermarsch ging 1958 vom Londoner Trafalgar Square aus, im April vor 65 Jahren. Heute werden sie von grünen Ex-Pazifisten bestenfalls als unzeitgemäß, schlimmstenfalls als amoralisch betrachtet. 2023 heißt die Devise: Wärmepumpen zu Hause, mehr Munition an die Front.
Das ist die grüne Osterbotschaft. Im Sub-Raum, unter den aneinandergereihten Wirklichkeiten à la Habeck, gibt es kein neues Ethos. Die Zukunft des Menschen der gegenwärtigen Geschichtsepoche scheint endgültig ausgemacht. Die politisch ausgegebenen Begriffswelten verhüllen Ratlosigkeit und Resignation.
Währenddessen werden tausende Kilometer entfernt die Gräber der anderen geschaufelt.