Europas Grenzen werden überrollt

Invasive Arten sollen verstärkt bekämpft werden

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Die Berichterstattung über die Pflanzen- und Tierarten, die sich neu in Europa ansiedeln, erinnert in der Wortwahl oft an rechtsextreme Pamphlete gegen „Überfremdung“. Obwohl sich Natur genau wie Kultur ständig entwickelt und wandelt, erschallt der Ruf „Ausländer raus“ in der Biologie weitgehend unwidersprochen. Biodiversität muss geschützt werden, aber dabei nationalistische Parolen einzusetzen, ist sicher ein Irrweg.

Biologische Zuwanderer werden in Neozoen (Tierarten) und Neophyten (Pflanzen) eingeteilt. Der Überbegriff lautet Neobiota und wird für alle Arten verwendet, die seit der Landung von Columbus in Amerika (1492) neue Gebiete besiedeln, und dort wild leben. (vgl. Neobiota: Aliens im Tier- und Pflanzenreich). Entweder gelangen die neuen Arten durch natürliche Ausbreitung in ihre neuen Lebensräume, oder der Mensch sorgt – gezielt oder unwillentlich – für ihre Verbreitung. Wenn sich die Neuansiedler über mehrere Generationen selbstständig am neuen Ort fortgepflanzt haben, gelten sie als etabliert.

Nicht alle sind Invasoren – obwohl die Begriffe in der öffentlichen Diskussion meist synonym verwendet werden. Allerdings wird die genaue Definition immer noch debattiert. Als Minimaldefinition gilt die der „International Union for the Conservation of Nature“ (IUCN):

Invasive Arten sind nicht einheimische Arten, die in natürlichen oder halbnatürlichen Ökosystemen oder Habitat etabliert sind, Veränderungen verursachen und die heimische Biodiversität bedrohen.

Was ist die heimische Tier- und Pflanzenwelt? Den meisten Leuten ist nicht klar, dass wir von vielen Pflanzen und Tieren umgeben sind, die wir für heimisch halten, die aber erst nach dem Jahr 1500 Einzug in die deutsche Flora und Fauna hielten.

Der Asiatische Marienkäfer (Harmonia axyridis) dringt seit einigen Jahren immer weiter in Europa vor. (Bild: Wikimedia Commons Das Bild "Harmonia axyridis sex3.JPG" stammt aus der freien Mediendatenbank Wikimedia Commons und steht unter der Creative Commons Attribution ShareAlike 2.5. Der Autor des Bildes ist Böhringer Friedrich)

Ein klassisches Beispiel für den Kampf von Neobiota untereinander ist die Miniermotte (Cameraria ohridella), die sich seit ihrer Erstsichtung 1984 in Mazedonien rasant über ganz Europa ausbreitet und den typischen Biergarten-Baum, die Rosskastanie, schädigt. Der winzige Schmetterling bringt die Blätter vorzeitig zum welken, weil seine Larven wie Bergbauarbeiter tiefe Minen ins Blattinnere fressen und dabei die Versorgungsadern durchtrennen. Der Baum wird nur geschwächt, nicht existenziell angegriffen, aber im Spätsommer unter komplett vertrockneten, braunen Kastanien zu sitzen, ist äußerst unschön. Und die Presse berichtet über die „Eindringlinge“ oder „Bioinvasoren“ mit Schlagzeilen wie Alarm im Biergarten.

Flugs wurde der fremden Bedrohung unter dem Motto "Rettet unsere Kastanie!" der Kampf erklärt, und die Rosskastanie zum Baum des Jahres 2005 gekürt. Allerdings ist „unsere Kastanie“ ganz klar auch ein Neophyt: Die Türken verwendeten ihre Früchte auf ihren Feldzügen als Pferdefutter und so gelangte der Baum im 16. Jahrhundert nach Wien, von wo aus er sich über ganz Mitteleuropa ausbreitete.

Fremd und heimisch – auch andere Beispiele verdeutlichen die Problematik der Diskussion. Der Fasan und der Damhirsch stammen aus Asien und wurden durch die Römer in Germanien angesiedelt, der Schwan kommt aus dem Hohen Norden und wird als neue Art seit dem Mittelalter auf Teichen gehalten – ursprünglich, um den Speiseplan hierzulande zu bereichern. Die Zwiebel verdanken wir den Römern, Kartoffel, Mais und Paprika der Neuen Welt.

Von den circa 48.000 Tierarten in Deutschland sind ungefähr 1.120 nach der Neozeon-Definition nicht wirklich heimisch, von den ca. 3.100 Pflanzen werden 417 als Neophyten eingestuft. Viele zoologische und botanische Neubürger bevölkern unsere Wälder, Wiesen und Auen, und die meisten davon erkennen wir nicht mal mehr als „Fremdlinge“.

Eindringlinge, Aliens, Invasoren?

Selbstverständlich gibt es einige neue Arten, die tatsächlich Probleme verursachen, z.B. andere Tier- oder Pflanzenarten verdrängen, oder sogar Gefahren für den Menschen bedeuten. Ein bekanntes Beispiel aus Australien ist die riesige, giftige Aga-Kröte (Bufo marinus), die 1935 gezielt als biologischer Schädlingsbekämpfer eingeführt wurde und sich seither nahezu unaufhaltsam über den Kontinent ausbreitet (vgl. Langbeinige sind schneller). Inzwischen jagen die Australier sie systematisch, dann werden sie schockgefrostet und zu Dünger verarbeitet (vgl. Inaugural Toad Out Day Declared A Success in Australia). Die hässliche Kröte ist ein prächtiges Beispiel dafür, dass der Mensch oft für die Ausbreitung der „Aliens“ verantwortlich ist.

Das gilt auch für den bekanntesten und gefürchteten Invasoren der Pflanzenwelt in Deutschland. Der Riesen-Bärenklau (Heracleum mantegazzianum), auch Herkulesstaude genannt, wurde 2008 sogar zur Giftpflanze des Jahres ernannt. Die Blühpflanze wird bis zu 3,50m hoch und verursacht Hautverätzungen und Reizungen der Atemwege beim Menschen. Ursprünglich kam die Herkulesstaude wegen ihrer dekorativen, weißen Blütendolden als Zierpflanze um 1900 nach Mitteleuropa, seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde sie zudem als Nutzpflanze von Imkern und in der Forstwirtschaft verwendet. Inzwischen ist sie längst etabliert und wuchert fast überall.

Die angeführten Beispiele verdeutlichen bereits, dass die Aufteilung in „gute“ und „böse“ Pflanzen- und Tierarten wenig Sinn macht. Der Mensch definiert, was für ihn nützlich ist – nur darum geht es. Tatsächlich hat sich die Flora und Fauna in deutschen Landen seit den Zeiten des Neandertalers immer wieder mächtig verändert, nicht zuletzt durch die Klimaschwankungen. Natur wandelt sich beständig. Der Mensch gestaltet sie, hält sich Zierpflanzen und Nutztiere, gestaltet Landschaft nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen.

Nach Schätzungen von Experten konnten sich in den letzten 7.000 Jahren seit Einführung des Ackerbaus in Mitteleuropa von 2.000 neuen Pflanzenarten etwa 200 tatsächlich spontan ansiedeln, davon etablierten sich dann ca. 50. Von den 2.000 Neophyten wurde nur einer zu einem Problem hinsichtlich Naturschutz, Gefährdung des Menschen oder als Verursacher wirtschaftlichen Schadens (vgl. Halb so wild: Neophyten in unserer Flora).

Die EU als biologische Festung

Es ist absurd, den deutschen Wald als exklusiven Lebensraum zu betrachten, der für deutsche Tiere und deutsche Bäume reserviert sein sollte. Ob zum Beispiel der im 20. Jahrhundert dort angekommene, aus Nordamerika stammende Waschbär irgendeine negative Auswirkung auf dieses Ökosystem hat, ist stark umstritten (vgl. Projekt Waschbär). In den Stadtgebieten, wo sich das Tierchen auch sehr wohl fühlt, gibt es dagegen einiges Konfliktpotenzial in der Koexistenz mit Menschen (vgl. Die Waschbären kommen). Das gilt aber nicht exklusiv für den Waschbären, sondern auch für viele andere Wildtiere, wie z.B. das urdeutsche Wildschwein, das gerne Vorgärten umgräbt, oder den Rotfuchs, der in Mülltonnen viel Schmackhaftes findet (vgl. Wildtiere in der Stadt).

Die Wissenschaft beschäftigt sich bereits seit den 50er Jahren mit den Folgen biologischer Invasion, die Politik hat das Thema seit den 90er Jahren ebenfalls entdeckt und versucht, mit Konventionen und Zielsetzungen im Rahmen des Naturschutzes die lokale Biodiversität zu erhalten.

Die Konvention zum Schutz und Erhalt der Biologischen Vielfalt (Convention on Biological Diversity CBD), die mehr als 190 Staaten unterzeichneten, setzt bis zum Jahr 2010 ehrgeizige Ziele:

  1. Signifikante Reduzierung der gegenwärtigen Verlustrate der biologischen Vielfalt auf allen drei Ebenen: (I) Lebensgemeinschaften, Lebensräume und Ökosysteme (II) Arten und Populationen (III) Genetische Diversität
  2. Förderung der nachhaltigen Nutzung von biologischer Vielfalt;
  3. Bekämpfung der Hauptgefährdungsursachen für biologische Vielfalt. Hierzu gehören unter anderem Gefahren durch invasive gebietsfremde Arten, Klimawandel, Umweltverschmutzung und Lebensraumveränderungen;
  4. Erhaltung intakter Ökosysteme und ihrer Funktionen als Lebensgrundlage für den Menschen;
  5. Schutz von traditionellem Wissen, Innovationen und Praktiken;
  6. Sicherstellung eines gerechten Vorteilsausgleichs bei der Nutzung genetischer Ressourcen;
  7. Mobilisierung finanzieller und technischer Ressourcen, insbesondere für sich entwickelnde bzw. derzeitig kaum entwickelte Länder sowie Länder mit im Übergang zur Marktwirtschaft befindlichen Wirtschaftssystemen, um die Umsetzung der Konvention und des Strategischen Plans zu fördern. (vgl. Das 2010-Ziel zur biologischen Vielfalt)

Die Europäische Union will den Verlust biologischer Vielfalt sogar komplett stoppen. Ein hehres und gutes Ziel. Das selbstverständlich mit einschließt, invasive Arten zu beobachten und gegebenenfalls zu bekämpfen, falls sie tatsächlich ein Problem darstellen.

Seit 2005 beobachteten 15 vernetzte Forschungsinstitute die biologischen Neubürger in Europa. Das Projekt DAISIE (Delivering Alien Invasive Species Inventories in Europe) spürt sie auf und erfasst sie in Listen. Erforscht wird ihre Rolle im jeweiligen Ökosystem vor Ort – und auch ob sie irgendeinen schädlichen Einfluss haben. Ende 2008 stellten die DAISIES 11.000 „nichteinheimische Arten“ vor, darunter eine Hitliste der 100 schlimmsten ihrer Sorte (vgl. 100 of the owrst). 10 bis 15 Prozent der gefundenen Neobiota stuften sie als ökologisch oder ökonomisch potenziell problematisch ein. Die EU-Kommission reagierte sofort und schlägt eine neue Strategie für den Umgang mit invasiven Arten vor. EU-Umweltkommissar Stavros Dimas sagte:

Invasive Arten sind eine beträchtliche Gefahr für unsere biologische Vielfalt. Ohne konkrete Vorschläge für den Umgang mit diesen unerwünschten Gästen können wir den Verlust an biologischer Vielfalt in der EU nicht aufhalten. (…) Die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Ausbreitung von invasiven Arten innerhalb der EU sind ernst und erfordern ein einheitliches Vorgehen.

Die Kommission sieht mehrere mögliche Optionen, von der Ausschöpfung existierender rechtsmittel in Kombination mit freiwilligen Verpflichtungen, über die Einrichtung eines europaweiten Frühwarn- und Informationssystems zur Erkennung neuer Arten, bis zu einer neuen rechtlichen Rahmenregelung (vgl. Kommission empfiehlt neue Strategie für den Umgang mit invasiven Arten).

Vier DAISIE-Forscher rund um Philip E. Hulme von der Lincoln University in Neuseeland preschen nun vor und veröffentlichen in der akruellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science ihre Forderung nach einer speziellen EU-Behörde zur Beobachtung und Bekämpfung invasiver Arten (vgl. Will Threat of Biological Invasions Unite the European Union?). Sie beklagen das bisherige Wirrwarr von Kompetenzen bei verschiedenen Einrichtungen der EU und verweisen auf die Kosten von mindestens 10 Milliarden Euro jährlich, die durch die gebietsfremden Organsimen verursacht würden. Die Zahl ist eine Schätzung – allerdings geben allein deutsche Städte zur Bekämpfung der Kastanien-Miniermotte nur für die systematische Laubentsorgung etwa 8 Millionen Euro aus (vgl. Millionenschaden durch Rosskastanien-Miniermotte).

Philip Hulme erklärt:

Die Verantwortung für das Management invasiver Arten ist auf zu viele europäische Institutionen aufgeteilt, darunter die europäische Umweltagentur (European Environment Agency EEA), die europäische und mediterrane Pflanzenschutzorganisation (European and Mediterranean Plant Protection Organisation EPPO), die europäische Behörde für Nahrungsmittelsicherheit (European Food Safety Authority EFSA), und viele mehr, die nur selten miteinander reden und bei denen das Thema invasiver Arten nur eines unter vielen ist.

Er fordert zusammen mit seinen Kollegen die Einrichtung eines Europäischen Zentrums für das Management invasiver Arten (European Centre for Invasive Species Management ECISM). Es sollte als zentrale Institution die ökonomische und ökologische Gefahren durch neue Arten schnell erfassen und rasche Reaktionen ermöglichen. Außerdem sollte ECISM die Öffentlichkeit informieren und aufklären.

Die aus Amerika stammenden Grauhörnchen (Sciurus carolinensis) machen den europäischen Eichhörnchen Konkurrenz und übertragen einen Virus auf sie, gegen den sie selbst resistent sind. In Schottland soll ihnen nun massenhaft der Garaus gemacht werden. Bild: USDA – APHIS

Im bürokratischen Wirrwarr der vielen Behörden der Europäischen Union sicher ein Vorschlag, der diskutiert werden sollte – was eigentlich möglich sein sollte, ohne von „unerwünschten Gästen“, „unwillkommenen Ausländern“, „Aliens unter uns“, oder „bösen Einwanderern“ zu sprechen – oder andere fremdenfeindliche Assoziationen zu beschwören. Aber kaum ist der Artikel in Science erschienen, veröffentlicht das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, eines der DAISIE-Forschungsinstitute, eine eigene Pressemitteilung zum Thema mit dem Titel: „Wird sich Europa endlich einigen, um tausende fremder Eindringlinge abzuwehren?“ Und im ersten Absatz wird gleich noch mächtig nachgelegt:

Europas Grenzen werden von tausenden Pflanzen- und Tierarten aus anderen Teilen der Welt überrollt... Die Eindringlinge fressen einheimische Arten, hybridisieren mit ihnen, parasitieren sie und verdrängen sie durch Konkurrenz. Sie bringen Krankheiten mit…

Eine differenzierte Wortwahl wäre angebracht – und würde verhindern, dass xenophobe Vorstellungen beschworen werden. Dann könnte auch differenzierter darüber diskutiert werden, dass die zunehmende Mobilität von Menschen und Waren heute viele Tier- und Pflanzenarten an neue Orte bringt, und die Klimaerwärmung dazu beiträgt, dass sich Organismen plötzlich dort heimisch fühlen und ansiedeln, wo sie zuvor nicht hätten überleben können. Das hat Folgen, die in Ruhe und ohne Panik-vor-dem-Fremden zu beschwören, analysiert werden sollten.