Europas Kampf um die Kontrolle
Seite 4: Europa verteidigt globale Strukturen der Ausbeutung und Kontrolle
- Europas Kampf um die Kontrolle
- Das Problem mit den universellen Menschenrechten
- Auffanglager, Polizeistationen und Überwachungssysteme
- Europa verteidigt globale Strukturen der Ausbeutung und Kontrolle
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Die große Aufbruchsbewegung aus den syrischen Kriegsgebieten, aus Irak und Afghanistan, hat die EU trotz all ihrer globalen Kontrollstrukturen unvorbereitet getroffen. Diesmal waren es die Europäer, die die Erfahrung eines Kontrollverlustes machten. Für viele in Europa sieht es jetzt so aus, als wollten die europäischen Staaten nur das Eigene kontrollieren: das eigene Territorium, die eigenen Grenzen. Tatsächlich verteidigt Europa damit aber auch eine globale Struktur der Ausbeutung und der Kontrolle über andere Erdteile und die Lebenschancen anderer Menschen.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die europäische Wirtschaft ihre Kontrolle über die Ressourcen anderer Kontinente systematisch ausgebaut, über die Märkte, die Bodenschätze, das Ackerland, die Fischgründe und die Arbeitskräfte. Gleichzeitig baut sie internationale Strukturen auf, um die Politik in diesen Ländern zu beeinflussen und die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger einzuschränken.
Vor welchen Alternativen steht Europa heute aus dieser Perspektive? Die Europäer könnten sich dafür entscheiden, einen globalen Wandel mitzugestalten, der sich ohnehin am Horizont abzeichnet. Die Flüchtlinge sind in gewisser Weise seine Vorboten.
Die expansive, marktradikale Phase des globalen Kapitalismus stößt zunehmend an wirtschaftliche, soziale und ökologische Grenzen. Ein Indiz dafür ist, dass sich die Weltwirtschaft von der Finanzkrise des Jahres 2008 nie mehr richtig erholen konnte. Der Planet ist abgegrast. In Europa, Japan und den USA kann ein geringes Wirtschaftswachstum nur noch mit Hilfe einer expansiven Geldpolitik durch die Zentralbanken aufrechterhalten werden. Einige Länder des globalen Südens, die ihre Ökonomien geöffnet und modernisiert haben, setzen hart in der Wirtschaftskrise auf.
Europa ist der Kontinent, der im vergangenen Jahrhundert jenes berühmte "europäische Sozialmodell" entwickelt hat, in dem die unteren Klassen ihre Teilhabe an der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung Stück für Stück verbessern konnten. Ist es nicht ungefähr das, was heute im globalen Maßstab auf der Tagesordnung steht?
Im Rahmen dieser Option müsste sich Europa wieder am eigenen Wertesystem orientieren und die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte zum Maßstab des eigenen Handelns machen. Das gilt in der Außenwirtschaftspolitik, aber auch im Umgang mit den Flüchtlingen. Anstelle von Zwangsmaßnahmen, Kriegsschiffen und Grenzzäunen brauchen die Flüchtlinge menschenwürdige Lebensbedingungen, Gesundheitsversorgung, Bildung und Lebensperspektiven - überall dort, wo sie sind. Hier könnte auch kurzfristig viel erreicht werden, wenn man die humanitären Organisationen der UN regulär durchfinanzieren würde, statt sie zu chronisch unterfinanzierten Bittstellern zu degradieren. Die Zahl der Menschen, die unbedingt nach Europa kommen wollen, würde dadurch ganz von selbst kleiner werden.
Die andere Möglichkeit ist, dass Europa sich weiterhin abschottet, sein Wertesystem endgültig verschrottet und die globale Spaltung immer weiter vertieft. Viele Europäer versprechen sich davon heute mehr Sicherheit und die Wahrung ihrer Besitzstände. Aber wie sicher kann das zukünftige Leben in Europa sein, wenn die weltweiten Gegensätze immer schroffer werden, wenn es immer mehr gewaltsame Eruptionen gibt? Auch das ist also ein Experiment mit äußerst unsicherem Ausgang.
Nicht zuletzt sind da noch die Flüchtlinge selbst, die längst zu Akteuren des Weltgeschehens geworden sind. Sie werden ja nicht weniger. Die europäische Abschottungspolitik führt dazu, dass immer mehr von ihnen in Lagern leben müssen, in Ländern, in denen sie eigentlich nicht bleiben wollen. Wie werden sie reagieren?
Die Flüchtlingsbewegung ist bis jetzt im Wesentlichen als Bewegung im körperlichen Sinne sichtbar. Menschen bewegen ihren Körper und ein paar Habseligkeiten von einem Land ins andere. Das kann sich jedoch schnell ändern. Ansätze politischer Flüchtlingsinitiativen haben sich schon vor Jahren gebildet. Flüchtlinge sind Menschen, die über all ihre Unterschiede hinweg gemeinsame Interessen haben. Sie wollen, dass ihre Rechte als Flüchtlinge respektiert werden. Durch ihre Fluchtbewegung stehen sie auch für die Interessen unzähliger Menschen des globalen Südens an einer fairen Verteilung von Lebenschancen. Hier könnte die erste weltweite Bewegung entstehen, die den Strukturen des globalen Kapitalismus entgegentritt.