Europas letzte Eurokrise?

Seite 2: Krisenhintergrund: "V" vs. "L"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die massive staatliche Verschuldung, die nun von nahezu allen Staaten in den Zentren des Weltsystems betrieben werden muss, resultiert aus der Hoffnung auf einen raschen konjunkturellen Aufschwung nach dem Ende der Pandemiebekämpfung.

Das marode kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinem Verwertungs- und Wachstumszwang soll so über die Zeit der Quarantäne quasi künstlich beatmet werden, bis die Beschränkungen wegfallen und die mit Staatsgeldern am Leben gehaltenen Konzerne, Unternehmen, etc. wieder eigenständig den Verwertungsprozess aufnehmen können. In einer Konjunkturkurve würde dies als ein "V" zum Ausdruck kommen, also ein heftiger, aber kurzer Einbruch, der durch zunehmende öffentliche Ausgaben überbrückt wurde.

Dieses Kalkül kann nur dann aufgehen, wenn die Pandemiebekämpfung nicht allzu lange aufrechterhalten wird, da irgendwann die Kreditwürdigkeit auch der Staaten in den Zentren immer stärker leiden wird - bis zur drohenden Entwertung. Deswegen nimmt bereits der Druck auf die Lohnabhängigen zu, sich doch für die Wirtschaft zu opfern und trotz Pandemie wieder zu arbeiten, um so den irrationalen Verwertungsprozess des Kapitals wieder in Gang zu setzen, an dessen Tropf alle kapitalistischen Gesellschaften hängen.

Ohne diese für kapitalistische Krisen charakteristischen staatlichen Interventionen, die diesmal alles bisher Dagewesene in ihren Ausmaßen in den Schatten stellen, droht ein Einbruch der Konjunktur, der zu keiner anschließenden Erholung führt, die Konjunkturkurve würde die Form eines "L" einnehmen, wie man es aus denjenigen Staaten kennt, die nach dem letzten Krisenschub 2008 sich nicht mehr erholten - etwa von dem von Schäuble verheerten Griechenland.

Deswegen bemühen sich alle Eurostaaten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Konjunktur- und Hilfspakete für die "Wirtschaft" aufzulegen, um deren wichtigsten Teile über die Pandemieperiode zu retten, damit nach deren Ende noch Industrie oder Warenproduktion überhaupt gegeben ist, die einen Aufschwung der Konjunktur bewirken könnte.

Aus Sicht des europäischen Zentrums eignet sich solch einer Krise aber auch gut dazu, lästige Konkurrenz in der Peripherie loszuwerden, indem man ihr die Finanzhilfen verweigert, die man sich selber aufgrund guter Bonität gönnen kann.

Schäubles Werk und Coronas Beitrag

Dass es sich derzeit nicht um eine einfache Wiederholung der Eurokrise handelt, sondern um einen erneuten, stärkeren Schub einer historischen Systemkrise, wird an den Dimensionen der schon voll einsetzenden sozioökonomischen Verwerfungen deutlich. Im Süden Italiens drohen bereits Unruhen aufgrund der verzweifelten sozialen Lage vieler Menschen, sodass Polizisten Supermärkte vor Plünderungen schützen müssen.

In vielen Eurostaaten drohen zweistellige Einbrüche der Wirtschaftsleistung. Selbst im Zentrum der Eurozone, in der Bundesrepublik, sind laut dem Ifo-Institut Einbrüche des Bruttoinlandsprodukts BIP von sieben bis 20 Prozent zu erwarten.

Wie sollen nun all jene Länder der Peripherie der Eurozone auf diese monströse Krisendynamik reagieren, die von Schäuble in der vergangenen Dekade mit einem desaströsen und kolossal gescheiterten Spardiktat überzogen worden sind, das zu einer tiefen Zerrüttung der gesellschaftlichen Strukturen in diesen Ländern geführt hat?

In Griechenland, das sich eigentlich nie mehr von der seeräuberischen Rosskur erholt hat, drohen nun massenhafte Pleiten des einzigen Wirtschaftszweiges, der dort noch übrig ist, der Tourismusindustrie. Zugleich ist das geschundene Mittelmeerland nach der Verabreichung von 14 Berliner "Sparpakten" zwischen 2010 und 2017 mit rund 175 Prozent seiner im Krisenverlauf um rund ein Drittel geschrumpften Wirtschaftsleistung verschuldet.

Italien, dass in der vergangenen Dekade in wirtschaftlicher Stagnation verharrte, weist einen Schuldenberg im Umfang von 130 Prozent seiner Wirtschaftsleistung auf, die nun erheblich schrumpfen dürfte. Sollte das Bruttoinlandsprodukt südlich der Alpen tatsächlich um rund 11,6 Prozent schrumpfen, wie etwa von Goldman Sachs prognostiziert, würde diese Verschuldung schon 150 Prozent des BIP erreichen: Das wären griechische Verhältnisse.

Spanien, dessen Rechtsregierung sich in den vergangenen Legislaturperioden alle Mühe gab, die Sparvorgaben aus Berlin zu erfüllen, weist am Ende der globalen Aufschwungphase, die von der nun zusammenbrechenden Liquiditätsblase getragen wurde, eine Arbeitslosenquote von 13 Prozent auf, wobei die Jugendarbeitslosigkeit bei rund 30 Prozent liegt. Die Schuldenlast Spaniens beträgt rund 100 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Fazit: Ohne umfassende finanzielle Unterstützung seitens der Zentren der Eurozone droht der Peripherie des Währungsraumes schlicht der sozio-ökonomische Kollaps binnen weniger Monate - und dem Währungsraum der Zusammenbruch. Die krisenbedingt auch in der EU beständig wachsenden Schuldenberge drohen, das "Europäische Haus" unter sich zu begraben.

Dies ist eigentlich die Entscheidung, die nun Kanzlerin Merkel in den kommenden Wochen fällen muss. Wie viel ist Berlin der Fortbestand der Eurozone wert?

Es sei ein "Moment der Wahrheit" für Merkel, titelten etwa US-Blätter, indem sie sich entscheiden müsse, ob ihre europäische Rhetorik noch Substanz haben solle. Ohne Übertreibung kann folglich konstatiert werden, dass die kommenden Wochen über den Fortbestand der Eurozone entscheiden werden.

Der Autor publizierte zu diesem Thema das Buch "Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa".