Exit-Strategie für die Ukraine: "Gerechten und dauerhaften Verhandlungsfrieden erreichen"

Seite 2: Kann man mit Putin verhandeln?

Bisher gibt es keinen Beleg dafür, dass das politische Ziel der "militärischen Spezialoperation" die Eroberung und Besetzung der gesamten Ukraine ist und Russland danach einen Angriff auf Nato-Staaten plant. Es gibt auch keine Anzeichen, dass Russland und die USA für diesen Fall Vorbereitungen treffen.

Aus militärischer Sicht kann man allerdings nicht völlig ausschließen, dass die russischen Streitkräfte beabsichtigen, Gebiete westlich des Dnjepr zu erobern, denn sie haben die Brücken über den Fluss bisher nicht zerstört, obwohl dies in der gegenwärtigen Konstellation von großem Vorteil wäre.

Putin widerspricht energisch, dass er – wie häufig behauptet wird, – das imperialistische Ziel verfolgt, die Sowjetunion wieder herzustellen: "Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz, wer sie sich zurückwünscht, hat keinen Verstand."

Putin war zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit und ist es sicherlich noch – dies immer unter der Voraussetzung, dass Verhandlungen auch von der Gegenseite – also der amerikanischen, ukrainischen und westlichen Seite – gewollt werden. Hierzu hat Putin sich mehrfach positiv geäußert.

Beispielsweise anlässlich der Erklärung zur Teilmobilmachung vom 21.  September 2022:

Das möchte ich heute zum ersten Mal öffentlich machen. Nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation, insbesondere nach den Gesprächen in Istanbul, äußerten sich die Kiewer Vertreter recht positiv zu unseren Vorschlägen. […] Aber eine friedliche Lösung passte dem Westen offensichtlich nicht, weshalb Kiew nach Abstimmung einiger Kompromisse tatsächlich befohlen wurde, alle diese Vereinbarungen zunichte zu machen.

Ebenfalls am 30. September 2022 in der Erklärung zur Annexion der vier Regionen:

Wir rufen das Kiewer Regime dazu auf, unverzüglich das Feuer einzustellen, alle Kampfhandlungen, diesen Krieg, den es bereits 2014 vom Zaun gebrochen hat, zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir sind dazu bereit, das haben wir bereits mehrfach erklärt."

Am 17. Juni 2023 erklärte Putin gegenüber der afrikanischen Friedensdelegation: "Wir sind offen für einen konstruktiven Dialog mit allen, die Frieden wollen, der auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Berücksichtigung der legitimen Interessen der unterschiedlichen Seiten beruht."

Bei dieser Gelegenheit zeigte Putin demonstrativ ein paraphiertes Exemplar des Vertragsentwurfs der Istanbuler Verhandlungen.

Die Welt hat am 23.  Juni 2023 in einem ausführlichen Leitartikel geschrieben, dass auch die russischen Medien von Verhandlungen sprachen; man kann davon ausgehen, dass dies mit Billigung des Kremls geschehen ist.

Die afrikanische Initiative sei anlässlich des russisch-afrikanischen Gipfels von der russischen Berichterstattung breit aufgegriffen und wohlwollend kommentiert worden. Die staatliche Nachrichtenagentur RIA veröffentlichte einen Kommentar, in dem die bisherigen gescheiterten Friedensinitiativen bedauert wurden.

Chefredakteurin Margarita Simonjan, die bislang ein härteres Vorgehen der russischen Armee forderte, befürwortete einen Waffenstillstand und eine entmilitarisierte, von Uno-Friedenstruppen gesicherte Zone. Es sei richtig, das Blutvergießen jetzt zu stoppen.

In Referenden sollten die Ukrainer dann selbst abstimmen, zu welchem Land sie gehören wollen. "Brauchen wir Territorien, die nicht mit uns leben wollen? Ich bin mir da nicht sicher. Aus irgendeinem Grund scheint es mir, dass der Präsident sie auch nicht braucht", sagte Simonjan.

Der Krieg hätte verhindert werden können, hätte der Westen einen neutralen Status der Ukraine akzeptiert – wozu Selenskyj anfangs durchaus bereit war –, auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichtet und das Minsk II-Abkommen für Minderheitenrechte der russischsprachigen Bevölkerung durchgesetzt.

Der Krieg hätte Anfang April 2022 beendet werden können, hätte der Westen den Abschluss der Istanbul-Verhandlungen zugelassen. Es liegt nun erneut und möglicherweise letztmalig in der Verantwortung des "kollektiven Westens" und insbesondere der USA, den Kurs in Richtung Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu setzen.

Es gilt, einen Weg aus der Gefahr einzuschlagen

Imperiale Rivalitäten, nationale Überheblichkeit und Ignoranz haben den Ersten Weltkrieg ausgelöst, den man als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat. Der Ukraine-Krieg darf nicht zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden!

Durch die zunehmende Europäisierung des Konflikts droht das Hineingleiten in einen großen Krieg zwischen Russland und der Nato, den keine der beiden Seiten will und angesichts der in einem solchen Fall akut drohenden nuklearen Katastrophe auch nicht wollen kann. Deshalb ist es dringend geboten, die Eskalationsschraube anzuhalten, bevor sie eine nicht mehr politisch kontrollierbare Eigendynamik entwickelt.

Jetzt gilt es für die europäischen Staaten und die Europäische Union, deren weltpolitisches Gewicht im Krieg und durch den Krieg laufend reduziert wird, alle Anstrengungen auf die Wiederherstellung eines stabilen Friedens auf dem Kontinent zu richten und damit einen großen europäischen Krieg zu verhindern.

Diesen abzuwenden, erfordert das Engagement führender europäischer Politiker, namentlich des französischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers in einer gemeinsamen Anstrengung und in Abstimmung mit dem US-amerikanischen und dem türkischen Präsidenten, solange noch Zeit ist und der "Point of no Return", auf den Jürgen Habermas eindrücklich verwiesen hat, noch nicht überschritten ist.

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