Exolunares Chaos am Rande des Sonnensystems

Bild: NASA / Southwest Research Institute / Alex Parker / Freitag

Hubble-Fernrohr nahm die vier Kleinmonde von Pluto ins Visier, die sich als Exzentriker entpuppen. Auf die New-Horizons-Sonde der NASA, die im Juli das Pluto-Charon-System erreicht, warten spannende Aufgaben

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Astronomen sehen in Pluto und Charon eine Art Planetensystem en miniature, weil beide Himmelskörper sich um ein gemeinsames Gravitationszentrum drehen. Von diesem engen Verhältnis bleiben die vier restlichen Monde nicht unberührt, wie zwei Wissenschaftler in Nature berichten. Sie beobachteten nicht nur den chaotischen Tanz zweier Monde um Pluto, sondern zeigten sich insgesamt von den Charakteristika des Kleinmond-Quartetts überrascht. Die Hoffnungen ruhen nun auf den NASA-Roboter New Horizons, der nach 9,5 Jahren Flugzeit sein Reiseziel bald erreicht und das Pluto-Charon-System aus nächster Nähe studieren soll. Er könnte die aktuellen Beobachtungen bestätigen und noch mehr Überraschendes zutage fördern.

Die erste Geige spielte Pluto im interplanetaren Konzert zu keinem Zeitpunkt, auch nach seiner Entdeckung im Jahr 1930 nicht, als der junge Astronom Clyde Tombaugh (1906-1997) am Lowell-Observatorium in Arizona in Flagstaff im Winterhimmel einen blassen, weißen kleinen Punkt lokalisierte und diesen ein Jahr lang minutiös observierte.

Inoffizieller Aufstieg zum Planeten

Als sich herauskristallisierte, dass sich das punktförmige Gebilde bewegte, gelangte es zu ungeahnten Ehren. Der nach dem römischen Gott der Unterwelt Pluto benannte Himmelskörper avancierte zum Planeten und erhielt auch den Segen der 1919 in Paris gegründeten Union Astronomique Internationale/UAI). Fortan war Pluto der kleinste, masseärmste und erdfernste Planet im Sonnensystem.

48 Jahre lang konnte die mehr als sechs Milliarden Kilometer entfernte und nur 2290 Kilometer Durchmesser große Eiswelt ihren offiziellen Status als Planeten verteidigen und behaupten, ohne jemals im Kreuzfeuer der Kritik gestanden zu haben oder ernsthaft in Gefahr geraten zu sein, wieder aus dem planetaren Orchester gestrichen zu werden.

Doch als 1978 Charon, der innerste der bislang fünf bekannten Monde, detektiert und näher untersucht wurde, entfachte dies erstmals eine Debatte über die Klassifikation von Pluto. Vor allem Charons Durchmesser erhitzte die Gemüter der Experten und wollte nicht so recht in deren Weltbild passen.

Clyde Tombaugh mit einer Fotoplatte. Er entdeckte Pluto am Lowell-Observatorium in Arizona in Flagstaff. Nur wenige Kilometer entfernt, ebenfalls in Flagstaff/Arizona, sammelte 1978 der 1,55 Meter große Kaj Strand Astrometric Reflector der USNO (United States Naval Observatory) die entscheidenden Daten, mit denen James Walter Christy kurze Zeit später den großen Plutomond Charon aufspürte. Ein solches Zusammentreffen darf man getrost als wissenschaftshistorischen Zufall par excellence bezeichnen. Bild: NASA

Tatsächlich war Charon mit 1207 Kilometer Durchmesser fast halb so groß wie sein planetarer Begleiter. Damit entpuppte er sich gemessen an der Größe seines vermeintlichen Planeten als wahrer Riese unter den Monden. In den Tiefen und Weiten des Sonnensystems ist diese Größenrelation nach wie vor einzigartig.

Chaotischer Pluto und Charon

Als Messungen ergaben, dass beide Objekte in nur 19.300 Kilometer Distanz zueinander stehen, was zirka der Flugstrecke Rio de Janeiro-Tokio entspricht, mehrten sich die Zweifel bei einigen Fachleuten. Gefördert wurden diese vor allem durch die astrophysikalische Tatsache, dass Charon als der kleinere und masseärmere Himmelskörper nicht Pluto umrundet, sondern dass beide um einen gemeinsame Achse kreisen, die sich zwischen beiden Objekten im leeren Raum befindet.

Auch beim gemeinsamen Umlauf um die Sonne weichen Pluto und Charon weit von der Norm ab. Wo andere Planeten unseren Heimatstern in annährend kreisrunden Bahnen in einer gemeinsamen Ebene geordnet umkreisen, präsentieren sich beide als wahre Chaoten. Diese Gegebenheit bewertete der amerikanische Wissenschaftsautor Jeffrey Kluger in seinem bereits 1999 erschienenen Buch Journey Beyond Selene wie folgt:

Plutos und Charons Bahn ist (…) ein asymmetrisches Durcheinander. Wie die eingefangenen Monde der größeren Planeten jagen der neunte Planet und sein Mond in einem steilen Winkel um die Sonne, mal 17,15 Grad unterhalb, mal 17,15 Grad oberhalb der Ebene des Sonnenäquators.

Das Durcheinander wurde noch größer, als Wissenschaftler 1992 nach Pluto und Charon das dritte transneptunische Objekt lokalisierten und kurz darauf vier weitere Plutinos ausmachten. War es angesichts der räumlichen Nähe zu diesen Objekten nicht naheliegend, in Pluto fortan keinen Planeten mehr zu sehen? Doch trotz dieser drängenden Frage, die sich immer mehr Astronomen stellten, behielt Pluto im Februar 1999 nach einer heftigen Diskussion über seine Klassifikation erneut den Segen der International Astronomical Society (IAU:.http://www.iau.org/). Im Jahr von Klugers Buchveröffentlichung schenkte die IAU dem fernen Himmelskörper nochmals ihr Vertrauen.

Dieses Foto von Charon und Pluto wurde im Juli 2013 vom LORRIE-Instrument der New-Horizons-Forschungssonde der NASA aufgenommen. Das hier zu sehende zentrale weiße größere Objekt (auf beiden Bildern) ist Pluto. Der nur schwach in Erscheinung tretende Pixel links oben - auf 11-Uhr-Position - ist Charon. Bild: NASA/Johns Hopkins University Applied Physics Laboratory/Southwest Research Institute

Chaos im Kuiper-Gürtel

69 Jahre nach seiner Entdeckung herrschte endlich Klarheit über seinen wahren Status, so dachten viele. Aber es sollte ganz anders kommen. Bereits kurze Zeit später verschafften sich wieder die Kritiker Gehör, die Pluto als einen von Neptun entwichenen Mond oder direkten Abkömmling des Kuiper-Gürtels hinstellten.

Der Kuiper-Gürtel ist eine scheibenförmige Region, die sich hinter der Neptunbahn erstreckt, in einer Entfernung von fünf und sechs Milliarden Kilometern von der Sonne. Zu ihnen gehören auch die so genannten transneptunischen und transplutonischen Objekte, die zu Hunderten ihren exzentrischen Umlaufbahnen folgen und Teil des Kuiper-Gürtels sind. Obgleich bisher nur 700 Objekte im Kuiper-Gürtel aufgespürt werden konnten gibt es Schätzungen, wonach dort vermutlich mindestens 70.000 Trans-Neptun-Objekte (TNO) mit einem Durchmesser von mehr als 100 Kilometer oder noch weitaus größer treiben. So verwundert es nicht, dass das Gros der Wissenschaftler in dieser Region Plutos Ursprungsort vermutet.

Einer der größeren TNO ist Sedna. Der im Durchmesser zirka 1000 Kilometer große Zwergplanet nähert sich der Sonne auf bis zu 76,4 Astronomische Einheiten (1 AU = 150.000.000 Kilometer). Bild: NASA, ESA and M. Brown (Caltech)

Planetarer Zwangsabstieg

Als Astronomen sodann im Jahr 2003 einen Himmelskörper aufspürten, der noch größer als Pluto war, schien dessen Schicksal endgültig besiegelt. Die Bedenken erreichten drei Jahre später ihren Höhepunkt, als die 26. Vollversammlung der IAU in Prag den Begriff Planet wissenschaftlich erstmals neu definierte und daraufhin Pluto aus dem erlauchten Kreis der acht anderen Planeten verbannte. Ein unnachgiebiges Astronomen-Gremium degradierte Pluto zu einem Zwergplaneten und versah ihn mit der Kleinplanetennummer 134340. Nach ihm wurden zugleich die neudefinierten Klassen der Plutoiden und der Plutinos benannt.

Dass im selben Jahr, als New Horizons seine lange Reise antrat, die IAU ihr legendäres Urteil fällte und Pluto aus dem planetaren Olymp vertrieb, mutet daher wie eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte an. Vor allem deshalb, weil die erste Raumsonde mit dem Fernziel Pluto vor den Sensoren, den Planeten Erde zu einem Zeitpunkt verließ, als Pluto noch als waschechter Planet gehandelt wurde.

24.08.2006 - IAU-Abstimmung in Prag. Die Damen und Herrn, die hier das gelbe Dokument heben, haben sich gerade gegen den Planetenstatus von Pluto entschieden. Bild: International Astronomical Union/Lars Holm Nielsen

Dennoch herrscht über den einstmals letzten und zugleich kleinsten planetaren Vagabunden unseres Sonnensystems bis auf den heutigen Tag noch immer Unklarheit darüber, ob er entgegen dem Verdikt der IAU vielleicht doch nicht das Qualitätsmerkmal Planet verdient. Am stärksten kam dies zweieinhalb Jahre nach dem Zwangsabstieg Plutos zum Ausdruck, als der Senat des US-Bundesstaates Illinois ihn per Dekret erneut den planetaren Ritterschlag gab und den 13. März partout zum "Pluto-Tag" verklärte. An jenem Tag des Jahres 1930 entdeckte der in Illinois geborene Clyde Tombaugh bekanntlich die ferne Welt am Rande des Sonnensystems - und als erster Amerikaner einen Planeten überhaupt.

Studie als Vorbereitung für New Horizons

Wie immer man auch zum planetaren oder nicht-planetaren Status von Pluto stehen mag - als Magnet wissenschaftlicher Neugier taugt der ferne Eisbrocken allemal. Dass Pluto nach wie vor ein hochinteressanter Forschungsgegenstand ist, beweist das aus der Feder von Mark R. Showalter und Doug P. Hamilton stammende Paper, das im britischen Wissenschaftsmagazin Nature (Bd. 522, S. 45-49, 04.06.2015) erschienen ist.

Aus ihm geht hervor, dass es dem Duo gelungen ist, nicht nur Pluto und Charon nochmals näher ins Visier zu nehmen, sondern auch die Charakteristika der kleineren Pluto-Monde Nix, Hydra, Kerberos und Styx genauer zu studieren. Um dies zu bewerkstelligen, griffen die Forscher auf Daten zurück, die das NASA-ESA-Weltraumteleskop Hubble in den Jahren von 2005 bis 2012 zusammengetragen hatte.

Bereits 1994 funkte das Hubble-Weltraumteleskop ein ungewöhnlich scharfes Foto vom Pluto und seinem Mond Charon zur Erde. Seinerzeit waren beide Himmelskörper 4,4 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. Bild: Dr. R. Albrecht, ESA/ESO Space Telescope European Coordinating Facility; NASA

Dies geschah auch im Hinblick auf den NASA-Forschungsroboter New Horizons, dessen Kamera LORRI unlängst erstmals alle bislang detektierten Monde des Pluto fotografierte. Mithilfe der Hubble- und LORRI-Daten können die Forscher die wissenschaftlichen Zielsetzungen überprüfen, korrigieren und gegebenenfalls Missionsziele neu definieren. Nicht zuletzt dienen die aktuellen Bits und Bytes dazu, alle Risikofaktoren während des kühnen Pluto-Flybys der Sonde zu ergründen und entsprechende Vorsichtmaßnahmen einzuleiten respektive sicherheitshalber ein Ausweichmanöver zu programmieren. Schließlich könnte auch das Pluto-System ein Ringsystem besitzen, in dem Myriaden Eiskristalle und Staubpartikel vagabundieren, welche die Elektronik der Raumsonde nachhaltig beschädigen könnten.