Expedition zum Mount Everest: Zwei Mann sicher zum Gipfel bringen

Foto (2009): Hans Stieglitz / CC BY-SA 3.0 Deed

Der letzte große Tag des britischen Imperiums: Die Geschichte eines Scoops. Der Times-Reporter James Morris und seine Wandlung.

Dies ist ein Bericht über die Erstbesteigung des Mount Everests vor siebzigeinhalb Jahren, über die abenteuerliche Geschichte, wie die Nachricht in die Welt gelangte, über den Reporter James Morris, der zur Frau Jan Morris wurde und über den letzten großen Tag des britischen Imperiums.

Am Krönungstag von Queen Elizabeth II., den 2. Juni 1953, kann die BBC zwei große Ereignisse für Großbritannien vermelden: den Beginn eines neuen elisabethanischen Zeitalters und die Erstbesteigung vom Mount Everest durch ein britisches Team.

Der Wettlauf der Medien

Über Letzteres hatte die Times am Abend zuvor exklusiv berichtet. Die Zeitung ist Mitfinanzierer der neunten britischen Expedition zum Gipfel des höchsten Berges der Erde. Sie darf exklusiv einen Journalisten benennen, der an der Expedition teilnimmt. Der 26-jährige James Morris gilt als der fitteste, obwohl er noch nie einen Berg bestiegen hatte.

In Asien lauern die Journalistenkollegen der Daily Mail, des Daily Telegraphs und der Nachrichtenagentur Reuters. Für Insider skizziert Morris einen Geheimcode für den bevorstehenden Fall einer positiven Nachricht nach London, um den Scoop, also die Exklusivnachricht für die Times zu sichern.

Das Team

Die Kerntruppe der Expedition besteht aus 14 Leuten. Neben Morris sind mit dabei der in Nordindien geborene Expeditionsleiter John Hunt, ein Arzt, ein Physiologe, ein Kameramann, der 33-jährige Neuseeländer Edmund Hillary und sein Landsmann George Lowe, ein paar weitere Briten und ein Held unter den Sherpas: der 38-jährige Tenzing Norgay.

Das Ziel der Expedition: Zwei Mann sicher zum Gipfel zu bringen.

Die Briten hatten an den Steilwänden des Mount Snowdon in Wales trainiert. Die Sherpas in Nepal. Und Hillary in Neuseeland und Nepal. Ein Jahr zuvor war Hillary am leichtesten aller 8000er gescheitert, dem Cho Oyu, versuchte sich außerdem am Everest – zusammen mit Tenzing Norgay.

Von Kathmandu sind es fast 300 Kilometer Fußmarsch bis ins Basislager. In zwei Karawanen schleppen 360 Träger tausende Kilogramm Gepäck. Nach drei Wochen der Akklimatisierung geht’s los. Alleine die Wegplanung durch den gefährlichen Khumbu-Gletscherbruch nimmt ein paar Tage in Anspruch.

Bis zum Gipfel wird die Expedition neun Hochgebirgslager aufbauen.

Tal des Schweigens

Ein gefährliches Unterfangen, denn die ganze Gegend ist kein Zuckerschlecken. 2014 und 2015 starben zwischen Basislager und Khumbu-Gletscherbruch insgesamt 34 Bergsteiger durch Lawinen. Hier oben ist es so kalt und windig, dass der Kameramann seine Kamera im warmen Schlafsack sichert.

Die Route führt entlang des Khumbu-Gletschers, vorbei am Gletscherbruch bis ins höchste Tal der Welt. Weil es hier oft so windstill ist, heißt es auch "Tal des Schweigens".

Der Gipfelsturm

Die Bergsteiger teilen sich den Aufbau der verschiedenen Gebirgslager. Auf 5.900 Meter wird Camp II errichtet, Camp III auf 6.200 Meter, usw. Dem Expeditionsleiter John Hunt sollen Ruhm und Ehre zufallen, den Everest als erster Mensch zu bezwingen.

Zusammen mit dem Physiologen Tom Bourdillon und dem Physiker Charles Evans schaffen sie es bis auf 90 Höhenmeter unterhalb des Gipfels. Doch dann gibt es ein technisches Problem mit der Sauerstoffversorgung. Sie verlieren wertvolle Zeit und schließlich ihre Kraft. Um nicht zu sterben (so wie die Bergsteiger im Jahre 1996), brechen sie ab.

Schon seit ein paar Tagen weiß die Gruppe, dass einige der auf 7.300 Meter hochgeschleppten Sauerstoffflaschen undicht sind. Der nächste Gipfelversuch fällt dem Neuseeländer Hillary und dem Sherpa Tenzing zu. Die letzte Nacht verbringen sie in Camp IX auf 8.504 Metern Höhe. Morgens um 06.30 Uhr stiefeln sie los. Werden die Sauerstoff-Flaschen für die letzten 350 Höhenmeter reichen?

Verbunden mit einem neun Meter langen Seil, erreichen sie am 29. Mai 1953 um 11.30 Uhr das Ziel ihrer Träume. Nach nur wenigen Minuten Aufenthalt und ein paar Fotos geht es sofort zurück. 950 Meter weiter unten, immer noch in der sauerstoffkritischen Todeszone, werden sie von George Lowe und Wilfrid Noyce mit Getränken empfangen. Hillary ruft den Wartenden zu: "Well, wir haben den Bastard ausgeschaltet (sic knocked-off)."

Lowe führt die Bergsteigergruppe zurück hinab ins 6.470 Meter hoch gelegene Camp IV. Dort warten Hunt, Morris und ein paar Sherpas. Freude, Tränen, Fotos, Umarmungen, dann wieder Tränen, eine wahrhafte Krönungsfeier. Ehrfurchterbietend huldigen die Sherpas ihrem Sirdar-Sherpa Tenzing, einer nach dem anderen.

Verschlüsselte Nachrichten und der Scoop

Noch am selben Abend eilt Morris 900 Höhenmeter hinunter ins Basislager. Die Strecke ist gefährlich, er verletzt sich und verliert einen Zehennagel. Ständig fällt er in kleine Eisspalten, bleibt im Schnee stecken, fällt über das Seil oder lässt seinen Eispickel fallen. Er ist sehr müde, gleichzeitig aufgeregt, und die sauerstoffarme Luft verwirrt ihn.

Später wird Morris schreiben, wie die meisten Zeitungsleute mache er alles und überall, wenn es eine gute Geschichte verspricht. Nach Einbruch der Dunkelheit trifft er im Basislager ein. Mit Beinen "steif wie Stangen" tippt er noch am Abend zwei verschlüsselte Nachrichten auf seiner mitgeschleppten Schreibmaschine.

Mit sensationeller Botschaft verlassen zwei Laufboten am Morgen das Basislager. Das Ziel ihrer Nachrichten: Die Times-Redaktion in London. Der erste Bote läuft 55 Kilometer über die Berge zur nächstgelegenen Telegrafenstation der Ortschaft Namche Bazaar. Luftlinie sind es nur 26 Kilometer. Der zweite Bote läuft mit einer ausführlicheren Nachricht 270 Kilometer zur britischen Botschaft in die Hauptstadt Kathmandu.

Das erste Telegramm an die britische Botschaft kommt an. Die Botschaft telegrafiert die Botschaft ans Außenministerium in London, und das Außenministerium reicht die freudige Nachricht weiter an die Redaktion der Times.

Code und Decodierung lauten:
"Snow conditions bad" steht für "Gipfel erreicht".
"Advanced base abandoned yesterday" steht für "Hillary gestern".
"Awaiting improvement" steht für "Tenzing".
"All well" steht für "niemand verletzt".

Der vorher vereinbarte Code für die Erstbesteigung durch Expeditionsleiter Hunt hätte geheißen: "Lager 5 aufgegeben".

Am Nachmittag des 01. Juni 1953 trifft die Nachricht in der Redaktion ein, die Meldung erscheint sofort in der Abendausgabe der Zeitung, damit der Scoop in der Welt ist. Auch die Noch-Prinzessin Elizabeth erfährt am Abend davon.

Der folgende Krönungstag von Queen Elizabeth II. am 02. Juni 1953 wird zum letzten glanzvollen Tag des britischen Imperiums.

200 Millionen verfolgen die Radioübertragung, erstmals sitzen auch einige am Fernsehen. Der Radiomoderator meldet bewegt: "Der Everest ist bestiegen worden".

7.500 Kilometer östlich von London und 33 Kilometer Luftlinie südlich des Basislagers hört James Morris die Radionachricht, springt auf die Sherpas zu und ruft: "Chomolungma finished". "Everest done with". "All OK".

Die Sherpas im Lager rufen zurück": "OK, Sahib, breakfast now?"

Hatte noch sechs Jahre zuvor der am 02. Oktober geborene Mahatma Gandhi Indien zur Unabhängigkeit von Großbritannien geführt, läutet nun der ebenfalls an einem 02. Oktober geborene James Morris die Glocke zum letzten großen Tag des britischen Weltreichs.

Gandhi, Morris, Suez – das Ende des British Empires

Generell lässt sich Morris eher von seinen Überzeugungen leiten als von der Loyalität zu einer bestimmten Autorität.

Obwohl er wie Gandhi im Einflussbereich des Commonwealth aufwächst und sozialisiert wird, teilt er mit ihm eine Verabscheuung der gewalttätigen Grundeinstellungen der Briten. In seiner Wahlheimat Wales wird er über die Jahre zum walisischen Nationalisten.

Dennoch krönt Morris seine Schriftstellerkarriere später mit einer großen Trilogie namens "Pax Britannica".

Eine Buchreihe, in der Morris dem britischen Weltreich eine ähnliche Weltpolizistenrolle zuschreibt, wie man sie heute den USA zuerkennt. Der Titel von Band 1: "Die Krönung des Imperiums." Das erste Buch veröffentlicht Morris als Mann, die beiden anderen Bände als Frau.

1956 landet Morris einen weiteren Scoop. Als Großbritannien und Frankreich in einer verdeckten Aktion Israel helfen, wegen der Beschlagnahme des Suezkanals durch die Regierung in Kairo in Ägypten einzumarschieren, reist Morris vor Ort und wird Zeuge der Aktivitäten seiner Landsleute. Seit seiner Tätigkeit für den britischen Geheimdienst in Palästina kennt sich Morris im Mittleren Osten aus.

Um eine Nachricht an seinen neuen Arbeitgeber, den Guardian, verschicken zu können (Israel behindert den Versand von Pressemeldungen), fliegt Morris nach Zypern.

Von der Times hat er sich da schon getrennt, weil die Zeitung in ebendiesem Suez-Krieg eine andere Meinung als Morris vertritt. In Zypern befragt Morris französische Soldaten und erfährt freimütig von deren Beteiligung am Krieg gegen Ägypten.

Die Nachricht des Guardian sorgt indirekt für den Rücktritt des britischen Premierministers Anthony Eden. Auch auf Druck der USA muss Großbritannien seine Kriegsteilnahme einstellen und verliert spätestens in jenem Moment Ansehen und Einfluss im Mittleren Osten.

Wenn der Krönungstag vom 02. Juni 1953 für Britannien ein Wumms war, landet Morris mit dem Suez-Scoop einen Doppel-Wumms.

Vom Mann zur Frau

Auch privat wird es bei James Morris nicht langweilig. Seitdem er als drei- oder vierjähriger Junge am Klavier seiner Mutter saß (seine Mutter hatte eine Ausbildung als Konzertpianistin am Leipziger Konservatorium absolviert), hat der kleine James das Gefühl, im falschen Körper zu leben.

Nach zuvor jahrelanger Hormonbehandlung reist er 1972 nach Casablanca, um sich dort im Alter von 46 Jahren einer geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen. Vor der Operation löst Morris noch Times-Kreuzworträtsel und verabschiedet sich – in den Spiegel schauend – von seinem männlichen Leben. Aus James wird Jan.

Fünf Jahre lang wird sie sich von ihrer Frau Elizabeth trennen, um erst einmal alleine als Frau zu leben. Jan Morris schreibt extensiv über diese Erfahrung, zu einer Zeit, als ansonsten noch nicht über Sexualität publiziert wird.

Zusammen mit Elizabeth hat Jan fünf Kinder. Elizabeth und Jan bleiben ein Paar, bis zu Jans Tod vor drei Jahren. Jan Morris war das letzte überlebende Mitglied der britischen Everest-Expedition von 1953.

Jan schrieb viel von sich selbst. Ein Buch handelt von ihrem Haus in Wales. So lernen meine Frau und ich vor elf Jahren Jan und Elizabeth kennen, in ihrem Haus in Wales. Ein wahres Schriftstellerhaus mit Tausenden von Büchern. Wir überlegen, schriftstellerisch zusammenzuarbeiten. Ebenso wie Jan bereisten wir die Welt. Jan schrieb keine Reiseliteratur, sondern – wie sie immer sagte – über Orte: Venedig, Spanien, Hongkong, Sydney.

Ihr Werk umfasst über 10 Millionen Wörter, 58 Bücher und eine beachtliche Menge journalistischer Werke. Doch auf den Everest-Scoop war Jan immer besonders stolz.

Die Briten gaben dem Everest seinen westlichen Namen. George Everest stammte aus Wales. Die Expeditionsteilnehmer von 1953 trafen sich viele Jahre lang unweit von Jans walisischem Heimatort – im kleinen Berghotel Pen-y-Gwry.

Bildrechte: Rainer Winters

Hier in den Bergen Snowdonias hatte das Team von John Hunt während der Vorbereitungszeit auf die Expedition gewohnt. Da es auch noch heute ein kleines uriges Berghotel ist, kamen die Expeditionsteilnehmer immer wieder zurück. Der jetzige Besitzer öffnet das Hotel nur für Übernachtungsgäste.

Doch wer es hierhin schafft, den erwartet ein einzigartiges Museum: In der Bar baumeln alte Expeditionsstiefel von der Decke, überall hängen Originalfotos vom Abenteuer Everest und hinter einer Glasscheibe findet man Ausrüstungsgegenstände wie die gelben Sauerstoffflaschen. In der Bar haben sich Hillary, Tenzing & Co. mit Unterschriften verewigt. Ein Ort, der eine der letzten großen Geschichten eines bröckelnden britischen Weltreichs erzählt.