FDP: "Reformpaket für Hartz-IV"
Die FDP will neue Arbeitsanreize für Empfänger des Arbeitslosengeld II schaffen. Hinzuverdienste sollen sich mehr lohnen
Richtig fest sitzt die Bundesregierung nicht im Sattel. Bei jedem Streit, wie im Moment über die Aufstockung der Grundrente, gehen die Kommentare sehr schnell ans Fundament. Die GroKo hält nicht lange, die Kanzlerin wird ihre Amtszeit nicht zu Ende bringen… Egal, wie viel Realismus dahintersteckt, die Zeiten stehen auf Veränderungen, vieles ist möglich und Ende Mai ist Europawahl.
Das ist die Chance für Parteien, die nicht in der Regierung sind, zu demonstrieren, dass die Berliner Verhältnisse, wie sie über die Bundestagswahl im September 2017 angelegt wurden, nicht mehr dem gegenwärtigen Wählerwillen entsprechen. Die Proteste der Gelbwesten in Frankreich führen vor, welche politische Dynamik Themen wie Steuergerechtigkeit und niedriges Einkommen entfalten können. Ob das in Deutschland auch so ist, welche politische Wucht Steuertribute und zu wenig Geld auf dem Konto am Monatsende bekommen können, wird sich erst zeigen.
Seit September 2015 dominierte das Migrationsthema in allen möglichen Schattierungen und in den öffentlichen Debatten waren es andere Gerechtigkeitsthemen, die mehr Aufmerksamkeit bekamen. Deutschland geht es gut, lautete die Erklärung dazu. Nachdem nun Aussichten darauf deuten, dass die Wirtschaft weniger wächst und es nicht unwahrscheinlich ist, dass sie auf eine Krise zusteuert, werden Fragen zur Arbeit, Entlohnung und Steuern wieder mehr ins Zentrum rücken.
Steuern: "Im unteren und mittleren Bereich wird kräftig zugelangt"
Die SPD versuchte dies schon seit Monaten mit der Diskussion über Hartz-IV, gab aber zumindest im Spiegel der Medienberichte und der Umfragen keine überzeugenden Impulse. Sie hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Auch bei den Steuern, wie ihr kürzlich Gabor Steingart in einem "Morning briefing" vorgehalten hat:
Wenn die SPD von Andrea Nahles und Olaf Scholz nach den Gründen für ihren anhaltenden Abstieg sucht, muss sie nur einen Blick in die Steuertabelle werfen. Dort nämlich trifft Rhetorik auf Realität. Der Spitzenverdiener, von dem die SPD so gerne spricht, sieht aus wie der Facharbeiter, der ehemals ein SPD-Stammwähler war.
Ab knapp 55.000 Euro Jahreseinkommen greift beim Junggesellen bereits der Spitzensteuersatz. Von seinem verbleibenden Nettobetrag will der Staat an der Tankstelle nochmal über 50 Prozent des Benzinpreises und später dann 19 Prozent Mehrwertsteuer an der Supermarktkasse oder im Restaurant. Damit rutscht die Kaufkraft des angeblichen Spitzenverdieners in die Nähe der Unterschicht.
Das bedeutet: Ausgerechnet jene Partei, die einst als Schutzmacht der kleinen Leute angetreten ist, macht Menschen nicht groß, sondern vorsätzlich klein. Sie verteilt nicht von oben nach unten, sondern von privat zum Staat.
Gabor Steingart
Steingart, der früher beim Spiegel schrieb und danach das Handelsblatt neu aufstellte, hält der SPD darüber hinaus entgegen, dass auch ihre Sozialpolitik einen falschen Ansatz hat: "Vater Staat bietet der rasierten Mitte anschließend seine Hilfe an: 350 Milliarden Euro geben alle Ressorts der Bundesregierung jährlich für Sozialleistungen aus. Ein Großteil dieses Geldes geht gönnerhaft an exakt jene Menschen, die problemlos ohne den Staat auskämen, wenn man ihnen vorher nicht ins Portemonnaie gegriffen hätte."
In seiner Kritik an der politischen Vernunft, wie sie die SPD verfolgt, äußert er schließlich einen Satz, der häufig zu hören ist: Bei den Steuern wird "gerade im unteren und mittleren Bereich kräftig zugelangt".
FDP: "Arbeit muss sich lohnen"
Das Gelände der Forderungen nach Steuerkürzungen ist ein traditionelles Feld der FDP, die sich gegen zwei Konkurrenten, links die Grünen, rechts die AfD, behaupten muss. Die Liberalen haben dazu einen Grundsatz, den Frankreich Macron auch erhebt und der ihm dort von großen Teilen der Bevölkerung nicht so ausgelegt wird, wie er es gerne verstanden hätte: "Arbeit muss sich lohnen." Laut Macron muss sich die Arbeit zuallererst für die Unternehmen lohnen.
Die FDP ist auch an diesem Ansatz dran, versucht ihn aber möglichst so in die Öffentlichkeit zu bringen, dass er nach "win-win" für alle aussieht. Sie hat eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit Anreizen befasst, um das Hinzuverdienen bei Hartz-IV-Beziehern attraktiver zu machen. Die Schlagzeilen dafür illustrieren, dass es der FDP bei ihrer Hartz-IV-Reform um ein gesamtgesellschaftliches Plus geht, das sich rechnerisch zeigt: "Hartz-IV-Reform könnte 290.000 Menschen in Arbeit bringen", titelte die Wirtschaftswoche.
Die Klemme der ALG-II-Bezieher
Das Problem, das angesprochen wird, sind Abgaben, die schwierige Effekte haben. Wer Hartz-IV-Leistungen bekommt und dazu verdient, hat einen Grundfreibetrag von 100 Euro im Monat. Alles, was sie oder er darüber hinaus hinzuverdient, wird auf die Leistungen angerechnet (Anm.: Hierstand ursprünglich irrtümlicherweise "besteuert") . Das erfüllt zwar angesichts dessen, dass sie oder er über ALG II (bzw. Hartz-IV) Leistungsempfänger von Staatsgeldern ist, Gerechtigkeitsanforderungen, bremst aber zugleich den Antrieb, sich mehr auf dem Arbeitsmarkt zu engagieren. Das ist der Ansatz der Liberalen.
Haushalte mit Kleinstjobs haben "finanziell kaum etwas davon, ihre Arbeitszeit auszuweiten und somit ihr Bruttoeinkommen zu erhöhen. Diese Haushalte erhalten von einer Lohnerhöhung von 100 Euro nur 20 Euro", ist in der Untersuchung zu lesen, die auf der Webseite der Friedrich-Naumann-Stiftung veröffentlicht ist. Die FDP-nahe Stiftung hat die Studie in Auftrag gegeben, die von Maximilian Blömer und Andreas Peichl im Münchner IFO-Institut verfasst wurde.
Die Studie variiert die beiden Lieblingsmotive der wirtschaftlichen Herzkammer der FDP "Leistung soll sich lohnen" und "Arbeit soll sich lohnen". Studienautor Andreas Peichl hatte Hartz-IV-Beziehern, die hinzuverdienen wollen, schon in einer anderen Studie harte Zahlen entgegengehalten:
Wenn ein Single Hartz IV bezieht, werden mögliche Einkünfte bis zu einer Höhe von 1200 Euro im Jahr nicht auf seine Sozialleistung angerechnet. Für jeden Euro, der darüberliegt, reduziert sich der Hartz-IV-Satz jedoch um 80 Cent und das bis zu einem Jahreseinkommen von 12.000 Euro. Wer oberhalb der Hartz-IV-Grenze im Niedriglohnbereich zwischen 12.000 und 14.400 Euro im Jahr arbeitet, leidet durch den Wegfall der Sozialleistung unter einer Grenzbelastung von 90 Prozent, bei Einkommen zwischen 14.400 und 17.000 Euro sogar unter einer 100-prozentigen Belastung. Jeder zusätzlich verdiente Euro wird also durch eine Senkung der Hartz-IV-Bezüge exakt ausgeglichen. Im Klartext: Es lohnt sich nicht, mehr zu verdienen.
Andreas Peichl
"Gehaltserhöhungen im Niedriglohnsektor lohnen sich besonders wenig"
Für Alleinerziehende, Zusammenlebende mit Kindern und Verheiratete mit Kindern sieht es nicht entscheidend besser aus. Der Grundaussage - wonach sich "Gehaltserhöhungen (…) ausgerechnet im Niedriglohnsektor besonders wenig lohnen" - bleibt bestehen. Zur politischen Einordnung sollte noch erwähnt werden, dass diese Studie, die Andreas Peichl federführend verfasst hat, von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben wurde.
Die aktuelle Studie im Auftrag der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung versucht mit Modellrechnungen den Fehlanreizen entgegenzusteuern. Mit Fehlanreizen gemeint ist, dass die staatlichen Leistungen einerseits und die staatlichen Abzüge beim Hinzuverdienst anderseits eine Zwickmühle ergeben, die den Schluss nahelegt, dass es besser ist, nicht zu viel hinzuzuverdienen. Die Grenzwertbelastung gibt den Maßstab - ab wann fallen die Betroffenen aus staatlichen Leistungen heraus, ab wann lohnt sich Arbeit, ab wann nicht mehr.
300.000 neue Jobs. Aber welche?
Dafür hat die Studie zehn(!) Reformmodelle entwickelt, die mit verschiedenen Stufen rechnen und die jeweilige Nutzenbalance herausarbeiten. Man kann sie hier im Detail studieren. Interessant ist möglicherweise der Ansatz sämtliche Leistungen (ALG-II, Wohnungsgeld und Kinderzulage) zusammenzurechnen, um die Bürokratie zu erleichtern, viel Augenmerk fällt in Medienberichten Hochrechnungen auf die Gesamtbevölkerung (ab Seite 52), die Zahlen mit Wahlkampfpotential haben: Bei Reformvorschlag Nummer 10 erhöhe sich die Zahl der Vollzeitäquivalente um sogar ca. um 400.000.
Um sich nicht lange bei den Unschärfen aufzuhalten, die mit Begriffs "Vollzeitäquivalente" verbunden sind, hier das dazu gehörige, bei den Zahlen etwas zurückhaltendere Fazit der Friedrich-Neumann-Stiftung zum Reformpaket für Hartz-IV:
Alle Reformoptionen führen zu mehr Dynamik auf dem Arbeitsmarkt. Fast 300.000 neue Jobs sind möglich.
Gutachten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Etwas zu kurz kommt bei den Rechenbeispielen der Aspekt, dass es bei alledem bei Jobs im Niedriglohnbereich bleibt. Die Lebenssituation ändert sich nur graduell. Die großen Abstände bleiben. Wenn Arbeit im Niedriglohnbereich lukrativer gemacht wird, so haben nach wie vor die Unternehmen die weitaus größeren Vorteile, wäre das größere Bild.
Gewerkschaftsbund: Milchmädchenrechnung
Der deutsche Gewerkschaftsbund hält die FDP-nahe Rechnung ohnehin "für eine Milchmädchenrechnung", schreibt Hartz-IV.org.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund warnt indes: "Die prognostizierten Wirkungen des FDP-Vorschlags gehen an der Realität des Arbeitsmarktes vorbei und sind deshalb in hohem Maße zweifelhaft." Das Ergebnis sei, "dass der Kreis der Leistungsempfänger durch die höheren Freibeträge erheblich ausgeweitet wird".
Hartz-IV.org